Paul Auster: 4 3 2 1.
„Wir schreiben um das Leben zweimal zu schmecken, im Augenblick und im Rückblick“, heißt es bei Anaïs Nin. Beim Lesen gilt das Gleiche – wir verdoppeln unser Leben, schmecken es zweimal, und haben zudem Teil an mannigfachen anderen Leben und Geschichten. Paul Auster scheint selbst das nicht gereicht zu haben: Gleich vier mal schreibt er ein Leben auf, das seins ist und doch nicht ist. Archibald Ferguson, der Held in Austers neuem Roman „4 3 2 1“, ist biografisch so eng an das angelehnt, was wir über den realen Paul Auster zu wissen meinen, dass der kundige Auster-Fans nicht anders kann, als zu rätseln, was an den vielen hier erzählten Episoden nun reine Fiktion ist und was auf der Wirklichkeit beruht.
Es ist die Geschichte eines jungen Amerikaners in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – aber nicht einmal, sondern gleich viermal erzählt. Die Ferguson-Variationen sozusagen.
Für uns ist es ja deswegen schwer, Entscheidungen zu treffen im Leben, weil wir damit andere Wege nicht gehen, andere Möglichkeiten ausschließen, andere Leben nicht leben. Stattdessen warten wir lieber mit einer Entscheidung und merken nicht, dass auch dieses Warten schon eine Entscheidung ist. Beim Schreiben ist es genauso, vielleicht sogar unterm Brennglas verschärft: Schreibblockaden treten auf, weil sich der oder die Schreibende nicht traut, die anderen Leben und Möglichkeiten zu verwerfen. Von den tausend Ideen im Kopf soll man sich nun für eine, nur eine entscheiden? Warum gerade die? Warum nicht diese oder jene? Man fühlt sich wie eine Hebamme, die bei der Geburt von Vierlingen entscheiden müsste, welches Kind leben soll!
Paul Auster hat es sich, angesichts solch existenzieller Entscheidungen, mit denen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller konfrontiert sehen, diesmal leichter gemacht. Auch wenn man das angesichts eines solchen Schwergewichts, 1250 Seiten dick, nicht unironisch sagen kann. Leicht ist es nicht. 4 3 2 1 ist ein Epos voller Politik, Zeitgeschichte, Liebe, Leidenschaft und immer wieder dem Zufalls. Aber Paul Auster hat sich eben bei der Frage, welchen Archie Ferguson er denn nun zum Leben verhelfen soll, dafür entschieden, allen Vierlingen eine Chance zu geben.
Archibald Ferguson wächst im Newark der fünfziger Jahre auf. Auf der nicht so glorreichen Seite des Hudson River. Dann die vier Ausfertigungen. Alle Archies sind einander recht ähnlich. Die Unterschiede: der eine provinziell und bescheiden; der nächste kämpferisch und vom Unglück verfolgt; dann wieder politisch aktiv und ergriffen von den Zeitläuften; der letzte künstlerisch begabt. Die Orte: New Jersey, die Columbia University, Paris. Die Gemeinsamkeiten sind seine osteuropäisch-jüdische Herkunft, die Frau, der er immer wieder verfällt, seine Liebe zum Schreiben, zum Kino und zum Baseball und nicht zuletzt sein ganzes poetisch-innerliches Seelenleben.
Um ein anderes Bild zu bemühen: Wie bei einem zu vererbenden Ring hat Auster hier gleich vier Versionen angefertigt, ohne je zu verraten, welche denn das Original ist. Was ist echt, was ist nur Variante und Abklatsch? Diese Frage kommt bei der Lektüre nicht auf. Die vier Archies sind gleichberechtigt, auch wenn einer von ihnen schon recht bald stirbt und es dann 1000 Seiten ohne ihn weitergeht. Er war eben eine Möglichkeit, wie ein Leben hätte verlaufen können. Und auch der Tod ist eine Möglichkeit im Leben.
„Verlaufen können“ – nicht „gelebt werden können“. Das Erstaunliche bei Austers Schreiben ist nämlich die Verherrlichung des Zufalls. Nicht erst seit „4 3 2 1“, sondern spätestens seit dem Roman „Musik des Zufalls“ von 1990. Es geht nicht um die Freiheit, den Willen, die Entscheidungen, die man selbstbestimmt im Leben trifft. Die Menschen leben ihre Leben nicht aktiv, führen sie nicht, sondern ihre Leben verlaufen in einem bestimmten Muster – das wiederum ganz anders hätte sein können, das im Grunde kontingent ist. Auster ist darin ganz und gar unamerikanisch – aber auch jenseits von jedem Sartre’schen Existenzialismus, in dem der Mensch sich seine Umstände, damit seine Existenz, selbst schafft.
So handelt es sich bei den verschiedenen Varianten von Archie Fergusons Leben nicht um Fragen wie: Was wäre gewesen, wenn ich mich damals anders entschieden hätte? Es ist nicht die berühmte „Road not Taken“ von Robert Frost. Sondern: Was wäre gewesen, wenn damals irgendetwas anders gelaufen wäre? Wenn die Würfel anders gefallen, mein Vater reich gewesen wäre und so weiter. Archie entscheidet im Grunde genommen nichts Entscheidendes. Er wird gelebt und wir sehen ihm dabei zu.
„4 3 2 1“ ist Austers Lebenswerk im wahrsten Sinne des Wortes: weil es sein dickstes Buch ist, sein aufwändigstes, das, in dem es nicht nur um sein gelebtes Leben, sondern auch um seine nicht gelebten Leben geht, und eines, das sich überhaupt die Frage stellt, wie ein nur Augenblicke währender Zufall über ein ganzes Leben entscheiden kann. Die Macht des Zufalls eben. „Kein Sieger glaubt an den Zufall“, sagt Friedrich Nietzsche, aber der Romanheld ist ja kein Sieger, kein Willensmensch, sondern einer, der vom Leben (und seinen Gefühlen) hin und her geworfen wird. Und Paul Auster ist einer, der im Alter auf dieses Leben zurückblickt und es im Rückblick zu verstehen versucht. Wir Lesende sind wiederum solche, die Auster beim Rückblicken zusehen und uns fragen, welche Winke des Zufall uns dorthin haben gehen lassen, wo wir jetzt sind.
Das Seltsame mit dem Gewöhnlichen zu verbinden, die Welt so genau beobachten wie ein in der Wolle gewaschener Realist, und doch eine Form zu finden, mit der die Wirklichkeit durch eine andere, leicht verzerrende Linse zu sehen ist – das war es, was Ferguson anstrebte.
Paul Austers Roman ist so ein leicht verzerrter realistischer Roman, dazu ein Bildungsroman, eine Coming-of-age-Geschichte, die die Zeit der 60er Jahre in New York als Folie benutzt, um uns die Hoffnungen und Nöte einer ganzen Generation zu verdeutlichen. Die Bürgerrechtsbewegung, die Studentenproteste von 1968, Vietnam. Denn wenn das die Kindheit und Jugend Amerikas war, können wir vielleicht besser verstehen, in welche Midlife Crisis es in der Zwischenzeit geraten ist. Übrigens: Im Alter von 70 Jahren einen Coming-of-Age-Roman zu schreiben, der nicht total altväterlich ist und dem eigenen Fühlen als junger Mensch, seinen Sehnsüchten und (sexuellen) Begierden immer noch nah, das muss Auster erstmal einer nachmachen .
Ich ist doch kein anderer?
Bleibt die Frage, was wir mit dem Experiment anfangen sollen. Denn das Rätsel ist ja: Wenn der Zufall so über unser Leben bestimmt – wer sind dann wir noch? Ein Spielball des Schicksals? Ein Würfelwurf? Ich ist ein anderer? Nur niemals wir selbst?
Zwar macht es einen Unterschied, ob Archie vaterlos aufwächst, ob die Familie in der Provinz oder in New York lebt, in der Upperclass oder prekär. Aber im Grunde, verändert sich der Archie nicht, dem wir begegnen. Sein Charakter bleibt derselbe.
Und das ist schon wirklich seltsam: Wenn der Zufall über alles bestimmt, wie kann es dann noch etwas so Festes wie eine Seele geben, die sich irgendwie treu bleibt?
Treu bleiben die vier Archies nämlich einem gewissen Typus. Es ist noch immer und immer wieder die typische Paul-Auster-Figur, die wir seit „Mond über Manhattan“ kennen und lieben. Es wird hier eine unzerstörbare Identität der Person behauptet. Archie bleibt Individuum, bei allen Spaltungsversuchen unteilbar. Und seine Einheit, ganz unpostmodern, ja fast klassisch, spiegelt sich auch im Stil wieder. Die verschiedenen Leben werden nicht verschieden erzählt. Es ist immer ein und derselbe olympische Erzähler, distanziert auktorial wie bei Dickens, der die Einheit auf einer höheren, der narrativen Ebene herstellt.
Die Sprachmelodie bleibt gleich, eine oft wunderschöner, suggestiver, klingender Ton. Sätze, die über mehrere Seiten gehen. Die Erzählhaltung bleibt gleich, die Ernsthaftigkeit, der konzentrierte, liebevolle Blick auf sein Sujet. Sein Lieblingskind. Der Roman sollte sogar den Titel „Ferguson“ tragen, aber dann kam Auster die Gegenwart dazwischen und der Ort Ferguson weckt heute andere Assoziationen.
Es ist im Grunde also konventionelles Erzählen, dass jegliche ironische Brechung und modern-postmoderne Spiegelfechterei verweigert. Chronologisch ist es und stellt das Geschehen innerhalb der jeweiligen Version als geradezu notwendig dar. So musste es kommen, so und nicht anders. Darin verweigert sich der Roman allerdings auch seiner eigenen philosophischen Grundannahme, dass der Mensch nämlich zufällig sei wie der Wurf eines Würfels.
Das ist auf einer literaturtheoretischen Weise schizophren. Alles ist Zufall, alles ist willkürlich aber das Erzählen ist notwendig. Doch das tut dem Genuss beim Lesen keinen Abbruch, im Gegenteil. Schreiben, sagt E. L. Doctorow, ist eine sozial akzeptierte Form von Schizophrenie, und Auster macht es uns hier ein weiteres Mal vor, wie man sich in drei, vier oder fünf Menschen teilen kann, ohne verrückt zu werden. Mehr noch: „4 3 2 1“ zeigt, wie die künstlerische Schizophrenie Voraussetzung dafür ist, die Freude am Fabulieren einmal richtig ausleben zu können.