Das WEF empfiehlt implantierte Microchips für Kinder
Auf dem Weg in die augmentierte Gesellschaft
Die augmentierte Gesellschaft
In ihrem auf der Seite des Weltwirtschaftsforums (WEF) erschienenen Artikel “Die erweiterte Technologie kann die Art und Weise, wie wir leben, verändern, aber nur mit der richtigen Unterstützung und Zukunftsvision” befasst sich die Elektroingenieurin Kathleen Philips mit den Veränderungen, die die Technologie der erweiterten Realität (“augmented reality”) für die Gesellschaft und das Leben des Einzelnen mit sich bringen wird.
Die Gesellschaft der Zukunft wird im Wesentlichen eine “augmentierte Gesellschaft” sein, also eine, deren Alltag durch den Einsatz von Technologien bestimmt wird, die sowohl die Umwelt als auch die menschlichen Fähigkeiten grundlegend verbessern sollen.
Dabei betont Philips vor allem die Bedeutung der Implantattechnologie, von der sie annimmt, dass sie in Zukunft zur Norm werde. Schon jetzt benutzen wir technische Hilfsmittel, die unseren Alltag erleichtern und Beeinträchtigungen abmildern sowie Krankheitssymptome lindern. Brillen, Hörimplantate oder Prothesen dienen dazu, eine verlorene oder beeinträchtigte Funktion wiederherzustellen. Aber auch für völlig gesunde Menschen könnten diese unterstützenden Technologien, wie etwa Nachtsichtbrillen, Exoskelette und Gehirn-Computer-Schnittstellen, eine Bereicherung sein, so Philips. Es geht um die Ausweitung des Einsatzbereichs biomedizinischer Technologien von Kranken auf Gesunde; eine Ausweitung, die nicht zuletzt riesige Märkte erschließt.
Die “augmentierte Technologie” verändere unseren Fokus auf Gesundheitsfürsorge hin zu einer “Wohlfühlvorsorge", bei der es nicht mehr nur um die Behebung einer Beeinträchtigung geht, sondern um eine Erweiterung und Verbesserung der natürlichen menschlichen Fähigkeiten, die unsere Lebensqualität insgesamt in nie dagewesenem Maße erhöhen sollen.
Microchips für verbesserte Kinder
Philips’ Fokus liegt dabei auf den Anwendungsmöglichkeiten der Implantate bei Kindern. Diese könnten durch augmentierte Technologien und Implantate in vielen Bereichen profitieren. So könnte eine visuelle und akustische Unterstützung, die überschüssige Reize ausblendet, Kindern in einer überfordernden Lernumgebung ein ruhigeres Lernklima bieten. Kindern mit Legasthenie würden durch Implantate, die in Echtzeit übersetzen, neue Möglichkeiten eröffnet. Auch bei Kindern mit ADHS seien Implantate im Gehirn eine gesündere Alternative zur bisherigen Verabreichung von Stimulanzien wie Ritalin u. ä.
Zwar könnten sie die Kinder die Geräte nach dem Unterricht noch abnehmen, aber “die Technologie wird in Form von Implantaten immer stärker mit dem Körper verwoben sein”, prophezeit Philips, die Vizepräsidentin von imec ist, einem belgischen Forschungszentrum für Nano- und Mikroelektronik, das unter anderem Microchips entwickelt.
Des Weiteren stellt sie die Möglichkeit in den Raum, seinem Kind einen Ortungschip zu implantieren. Es gebe “solide, rationale Gründe dafür, etwa die Sicherheit”, so Philips. Eine Vorstellung, die nicht von ungefähr an die Black-Mirror-Folge Arkangel erinnert.
Die Normalisierung der Microchips
Implantierte Microchips hält sie für einen “Teil einer natürlichen Entwicklung”, die tragbare Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte einst durchliefen. Ebenso wie diese nicht mehr mit einem Stigma behaftet sind, werden sich Implantate zu einem Gebrauchsgegenstand entwickeln.
Nach Implantaten unter die Haut, in den Bauch oder solchen, die die Nerven des peripheren Nervensystems oder die Informationsautobahnen beeinflussen, die das Rückenmark und das Gehirn mit den Organen und Gliedmaßen verbinden, hält Philips auch augmentierte Technologien, die direkt ins Gehirn implantiert werden, für bedenkenswert. Diese ermöglichen es uns, “direkt auf das ,Betriebssystem’ des Körpers zuzugreifen.” Damit könnten Symptome von Epilepsie, Parkinson oder Depression gelindert werden.
Elektroarzneimittel als gesündere Alternative
Die Autorin räumt ein, dass viele Menschen Bedenken bei einer derart invasiven Anwendung von Microchips haben. Sie verweist daher auf die Alternativen, die uns derzeit zur Verfügung stehen:
Medikamente zeigen oft unerwünschte Wirkungen, weil sie mehrere biologische Prozesse gleichzeitig beeinflussen. Jemand, der langfristig Medikamente einnimmt, möchte vielleicht stattdessen ein Implantat ausprobieren, das sehr präzise elektrische oder optische Impulse aussendet.
Etwa 65 % der amerikanischen Kinder und Jugendlichen mit ADHS erhalten Medikamente zur Stimulanzienbehandlung. Sie wirken auf das Gehirn und haben (langfristige) Nebenwirkungen. Daher sollten wir über "Elektroarzneimittel" nachdenken, schreibt Philips,
kleine Implantate, die die Symptome verschiedener Erkrankungen durch die Abgabe kleiner elektrischer Impulse lindern. Ein überzeugendes Argument für die bioelektronische Medizin ist, dass die Impulse mit einem Knopfdruck gestoppt werden können, während die Wirkungen von Medikamenten länger im Körper verweilen.
Augmentierte Technologie und Ethik
Die Autorin ist sich der ethischen Implikationen einer solchen Entwicklung hin zur “augmentierten Gesellschaft” mit “augmentierten Kindern” zumindest ansatzweise bewusst. Zudem gibt sie zu, dass nicht die wissenschaftlichen Fähigkeiten die Grenzen für den Einsatz der Implantate ziehen werden, sondern allein ethische Argumente.
Die Technologieoptimisten zeigen, was mit Augmented Reality möglich ist, so Philips. Welche dieser Möglichkeiten auch ergriffen werden sollen und welche nicht, sei eine Frage der praktischen Ethik. Eine angemessene ethische Beratung sowie ein rechtlicher Rahmen, der von übergreifenden oder unabhängigen Institutionen gesetzt werden solle, sei daher ein Muss. Doch Grenzen ziehende Argumente gegen die “augmentierte Gesellschaft” weiß sie nicht aufzuzählen.
Vielmehr stellt sie die rhetorische Frage:
Wollen wir die menschlichen Einschränkungen, die mit dem Lernen oder dem Älterwerden verbunden sind, akzeptieren?
Schwächen müssen eliminiert werden
Trotz ihrer leicht einschränkenden Bemerkungen wird deutlich, dass sich Kathleen Philips für den Einsatz der augmentierten Technologie, vor allem als implantierte Microchips und vor allem bei Kindern, stark macht. Mögliche Gefahren wie totale Kontrollierbarkeit des Individuums, gesteigerte Technik-Abhängigkeit, Verlust von genuinen menschlichen Fähigkeiten, Missbrauchspotenziale usw. sieht sie nicht. Vor allem aber unterliegt sie einem bei Technokraten weit verbreiteten Denkfehler: Die Schwächen der Menschen nicht als Merkmale zu sehen, die die notwendigen Bedingungen für ihr Glück darstellen. Menschliche Schwächen sind in der technokratischen Sicht etwas, was eliminiert werden muss, und Technik ist das Werkzeug, dessen Einsatzmöglichkeiten unbegrenzt sind.
Dabei sind menschliche Schwächen auch Symptome für Mängel, die unsere zivilisierte Gesellschaft erst hervorgebracht hat. Anstatt die Institutionen zu verändern, die uns krank machen, eröffnen wir Technologien einen Markt, die den Einzelnen diesen Institutionen anpassen. Den Fokus auf die technische Eliminierung von ADHS zu legen, bringt es mit sich, vor den profunden Mängeln eines Schulsystems die Augen zu verschließen, in dem Kinder in einer unnatürlichen Umgebung einer unmotivierenden Tätigkeit nach fremdgesteuerten Vorgaben nachgehen müssen.
Unsere Endlichkeit bedingt unsere Glücksfähigkeit
Zum anderen sind menschliche Schwächen der Bestandteil der condition humaine, der uns immer wieder an unsere Endlichkeit erinnert. Diese Endlichkeit, die letztlich eine Auseinandersetzung mit dem Tod ist, ermöglicht uns die wichtigste Einstellung zu der Welt und unseren Mitmenschen: die Liebe. Liebe ist hier gemeint als das Präferieren des einen zuungunsten des anderen. Präferieren können wir aber nur, wenn wir wissen, dass unsere Zeit endlich ist. Die Knappheit der Ressourcen und der Zwang zu wählen, sind die Voraussetzung dafür, Präferenzen zu haben. Ohne Präferenzen wäre uns alles gleichgültig und wir würden gelangweilt und lieblos durchs Leben gehen. Präferenzen aber können wir nur haben, weil und solange wir unsere Lebenszeit als endlich und uns selbst als sterbliche Wesen begreifen.
Das eine dem anderen, die eine Erfahrung der anderen oder diesen Menschen jenem vorzuziehen, bedeutet für uns, Glück erfahren zu können. In einer “augmentierten Gesellschaft”, die von dem Glauben getrieben ist, alle Schwächen seien eliminierbar und jegliche Einschränkung sei technisch aufhebbar, verschwindet auch das Gefühl für die eigene Endlichkeit und ihre Akzeptanz. Und mit ihr die Fähigkeit zu lieben.
Wenn Kathleen Philips die Frage stellt:
Wollen wir die menschlichen Einschränkungen, die mit dem Lernen oder dem Älterwerden verbunden sind, akzeptieren?
so sei die Gegenfrage erlaubt:
Wollen wir die Abschaffung der menschlichen Schwächen, die mit der Möglichkeit zu lieben verbunden sind, akzeptieren? Werden wir uns auf der Suche nach immer größerer Verbesserung der Möglichkeit des Glücks berauben?