Heiligabend 1962, irgendwo in der DDR: Ein Taxifahrer gerät in einen Streit mit einem Fahrgast. Als der ihn darauf bei den Behörden anzeigen will, ruft ihm der Taxifahrer hinterher: „Melde, Mensch, immer melde!“ Und wütend urteilt er: „Ein Volk von verhinderten und nicht verhinderten Polizisten, das sind wir – und sind wir schon immer gewesen. Heil uns.“
Günter Stahnkes DEFA-Fernsehfilm „Monolog für einen Taxifahrer“, dem diese Szene entstammt, wurde 1962 von dem Lyriker und Schriftsteller Günter Kunert geschrieben und kurz vor der Ausstrahlung verboten. Kurt Hager, seines Zeichens Chefideologe der SED, verlautbarte in der Beratung des Politbüros über den Film:
Wir können es nur als beleidigende, intellektuelle Überheblichkeit gegenüber den arbeitenden Menschen unserer Republik ansehen, wenn von ihnen als einem ‚Volk von verhinderten und nicht verhinderten Polizisten‘ gesprochen wird.
Der Text Kunerts sei
durchdrungen von einem tiefen, unserer sozialistischen Weltanschauung fremden Skeptizismus gegenüber dem Menschen und seiner Fähigkeit, die Welt und dabei sich selbst zu verändern.
Sechzig Jahre später hat das Volk von verhinderten und nicht verhinderten Polizisten neue Spielplätze gefunden, auf denen es seine Meldesucht befriedigen kann. Auf den sozialen Plattformen, auf Online-Portalen, per Mail an verdächtige Veranstalter, als um die Volksgesundheit besorgte Bürger in der Nachbarschaft sowieso. Die CDU dachte im Herbst 2020 sogar laut über uniformierte und bewaffnete Corona-Hilfssheriffs nach, die die Menschen „von der Notwendigkeit der neuen Corona-Kontaktbeschränkungen überzeugen“ sollten. Was für eine willkommene Gelegenheit, seinem Erzfeind ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann.
In der medialen Quarantäne
Auch in den seriösen Medien, im öffentlichen und intellektuellen Diskurs greift das Melden wieder um sich. An den Pranger gestellt wird, wer keine Sendezeit mehr bekommen, seinen Posten verlieren, ausgeladen werden soll. Verleumdung, Ächtung und organisierte Shitstorms bringen missliebige Köpfe in die mediale Quarantäne, in der sie endlich genug Zeit haben, ihre die herrschende Weltanschauung anzweifelnde und volkszersetzende Hetze zu überdenken.
Die gemeine Kunst des Meldens und Denunzierens dient auf der individuellen, psychohygienischen Ebene vor allem der eigenen Gewissensberuhigung: Man will sich nicht vorwerfen lassen, nicht alles, wirklich alles Menschenmögliche (denn mit dem vermeintlichen Delinquenten das Gespräch zu suchen fällt offenbar nicht mehr in diese Kategorie) getan zu haben, damit der Ein-bis-n-Jahresplan („r-Wert unter 1 halten!“, „Zweite Welle abflachen!“, „Aufeinander achtgeben!“, „Nur noch einmal anstrengen!“ etc.) erfüllt werde.
Auf der gesellschaftlichen Ebene aber reduziert diese Methode auf geradezu magische Weise die grassierende Ungewissheit. In Krisenzeiten herrscht notwendigerweise das Primat des Handelns. „Wir müssen handeln – und zwar jetzt!“, tönt es aus Politiker-, Wissenschaftler- und Journalistenmund. Wer aber zum Handeln drängt oder zumindest auf Akzeptanz des eigenen Handelns aus ist, braucht das Gefühl der Sicherheit in der Entscheidung. Ein zögerndes Schwanken lässt sich nicht gut verkaufen. Nachdenken, Abwarten und sich ein differenziertes Bild machen – all das erscheint schnell als Schwäche oder gar Verrat. Wer sicher entscheiden will, muss klar urteilen können – oder zumindest so tun, als könnte er es. Wer aber ein klares Urteil will, muss vor allem erkennen, was Sache ist. Und da stört Ungewissheit. Eindeutige Erkenntnis gelingt unter Druck am besten, wenn man Dinge ausblendet, die dieser Erkenntnis widersprechen würden. Diese Abschaffung des Zweifels im Ausnahmezustand bereitet die Abschaffung der Urteilsenthaltung, der Ambivalenz in der Bewertung, der Differenzierung vor, und diese mündet in der Abschaffung der Unsicherheit.
„Zu allem Handeln gehört Vergessen“, schrieb Friedrich Nietzsche 1874 in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Das Vergessen ist der erste Schritt, um Gewissheit und Handlungsfähigkeit auf Kosten von gedanklicher Differenz herzustellen.
Die große Verdrängung
Im Jahr 2020 haben wir eine große Verdrängung auf vielen Ebenen erlebt. Verdrängt, ausgesetzt oder stummgeschaltet wurden und werden wissenschaftliche Gegenstimmen und Intellektuelle, Alternativen zu den offiziellen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung sowie Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, aber auch Grundrechte wie Datenschutz, Privatsphäre und Unverletzbarkeit der Wohnung, außerdem Prinzipien wie jenes des offenen Diskurses oder des audiatur et altera pars. Diese große Verdrängung drückt sich dabei in einer Verengung des geistigen Horizonts, des Meinungsfensters und der öffentlichen Debatte aus – in einer „Vereindeutigung der Welt“, wie sie der Islamwissenschaftler Thomas Bauer konstatiert hat. Wir erleben eine Reduzierung gedanklicher Vielfalt und eine Zurückdrängung des Unangepassten.
Diese Mechanismen der Verdrängung sollen den Verlust an Orientierung kompensieren. Neuartige Probleme, aber auch schneller, unvorhergesehener Wandel im Bereich der Technik, der Kommunikation, der Mentalität, der Wirtschaft oder der Politik – der „Zukunftsschock“, von dem der Futurologe Alvin Toffler schon 1970 sprach – lassen eine verstärkte Sehnsucht nach Orientierung entstehen, wie sie in postreligiösen und postideologischen Zeiten kaum noch angeboten wird. In ungewissen Zusammenhängen sehnen wir uns nach der starken Hand und unverhandelbaren, einheitlichen Regeln. Und in unserem Bedürfnis nach Ruhe und Eindeutigkeit empfinden wir die Verengung des Diskurses auf das „moralisch Gute“ (das durch „Abnicken und Mitmachen“ ratifiziert wird) nicht mehr als schmerzlich. Wir verlieren unsere Skepsis gegenüber einem weltanschaulich motivierten Haltungsjournalismus sowie gegenüber Diskursfiltern, wie sie die Methoden des Meldens und Cancelns auf perfide Weise darstellen.
Wo ist das radikale Misstrauen?
Wer erinnert sich noch an die Worte, mit denen Peter von Matt Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ gedeutet hat? „Es bestimmt die Haltung der Intellektuellen gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Macht und verpflichtet sie zum radikalen Misstrauen.“ Wo ist dieses radikale Misstrauen jetzt? Ist es unter der Floskel „Verschwörungstheorie“ zusammengebrochen?
Wir verdrängen guten Gewissens Stimmen aus dem Chor derer, die sich Gedanken zur Lage machen – Stimmen, die vielleicht auch Unerhörtes zu sagen hätten. Seinerzeit wurde ein Film, der die Meldementalität der Deutschen anprangerte, wegen eben dieser Kritik von oberster Stelle als untragbar gemeldet – heute wird jemand, der die grassierende Cancel Culture und den Unwillen zum sachorientierten Gespräch kritisiert, von einer liberalen parteinahen Stiftungen, die zum Gespräch über Meinungsfreiheit eingeladen hatte, nachträglich wieder ausgeladen.
Aber das Verdrängen kann auch weniger deutliche Gestalt annehmen, etwa die des Ignorierens, des Ausblendens. Wann haben wir zuletzt etwas von Juli Zeh gehört? Welchen bleibenden Eindruck haben die klugen Bemerkungen der Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt gemacht oder die differenzierten Worte eines Daniel Kehlmann? Diese Stimmen sind nicht verstummt, aber sie werden beschwiegen.
Wie jede Verdrängung bahnt sich allerdings auch die große Verdrängung von Stimmen, Alternativen und Werten einen Weg zurück an die Oberfläche und kehrt als Schatten in die Diskurse zurück – als Populismus oder als gewaltaffiner Protest, als Hoffnung auf eine Beschleunigung der Krisen und auf den großen Crash, nach dem die Weichen für eine vollkommen neue Welt gestellt werden können. Der Versuch, die Ungewissheit abzuschaffen, bedroht die pluralistische Demokratie, aber auch unser Selbstverständnis als Menschen, deren Eigenwert und Würde in der Pandemie auf eine Funktion oder gar auf das „nackte Leben“ reduziert zu werden droht. Um kommenden, aber auch bereits bestehenden Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Migration, der Globalisierung, der Digitalisierung, der Künstlichen Intelligenz und der Technokratie zu begegnen, gilt es daher, handlungsfähig zu sein, ohne die notwendige Ungewissheit zu leugnen – und ohne jene aus dem Diskurs zu drängen, die der Befriedigung unserer Sehnsucht nach Sicherheit im Weg stehen. In Kunerts „Monolog für einen Taxifahrer“ fragt sich der Held: „Wie bin ich nur auf diesen Planeten geraten, wo man nicht miteinander spricht?“ Und urteilt: „Quälen einander, peinigen den anderen und tragen stolz den Namen Mensch.“ Wenn wir einander zum Quälgeist und Peiniger werden, ein meldewütiges Volk von verhinderten und nicht verhinderten Polizisten, kann uns nichts mehr retten als ein sarkastisches „Heil uns!“
Wenigstens benannte er es als das was es war..eine Ideologie "unserer sozialistischen Weltanschauung fremden..." "Heil uns" ist immerhin besser als "Heilcorona"