Gehorsam
Der Psychiater Arno Gruen erinnert sich an seine Schulzeit im Berliner Wedding. Die Lehrerin habe gefragt, welcher Schüler einen neuen Rohrstock holen gehe. 29 von 30 Schülern hätten aufgezeigt, nur der kleine Arno nicht.
Mich erinnern die Debatten über neue Gesetze, Bestimmungen, Freiheitseinschränkungen, Zwangsbeiträge, Zensurmaßnahmen, Abgaben, Regulierungen, Maßnahmen gegen Vertragsfreiheit, gegen Hate speech, gegen Fake News, gegen unliebsame Meinungen, gegen Geschlechtsverkehr ohne schriftliche Einwilligung an genau diese Anekdote. Wie viele von uns verteidigen die Mittel, mit denen unsere Freiheiten eingeschränkt werden? Wir laufen willfährig los um den Rohrstock zu holen, mit dem die Autorität uns schlagen wird.
Protect me from what I want.
Bertrand de Jouvenel schreibt, die Staatsgewalt beruhe auf dem Gehorsam der Menschen. Dieser Gehorsam bestehe bei den Menschen nicht aufgrund der Angst vor der Macht und physischen Gewalt des Staates, auch nicht aufgrund der Akzeptanz einer höheren Legitimation (durch Gott, durch das Volk), sondern simpel und einfach aufgrund von Gewohnheit. Ebenso wie die Berliner Schüler es derart gewohnt waren, geschlagen zu werden, dass ihnen die Perversität nicht in den Sinn kam, die darin liegt, der Autorität die Mittel zur Herstellung des Gehorsams und zur Durchsetzung ihres Willens auch noch bereitwillig auszuhändigen, sind die Menschen es gewohnt, dem Staatsapparat die Rechtfertigung für seine Knebelungen auf einem silbernen Tablett zu servieren.
Nur für die Ausweitung ihrer Macht, schreibt Jouvenel, benötigt die Staatsgewalt weitere Mittel: die Ausweitung des Gehorsams. Was über den Horizont des Gewohnten hinausgeht, wird nicht akzeptiert. Hätte die Lehrerin gebeten, eine Peitsche zu holen, hätten sich sicherlich nicht 29 Schüler gemeldet. Man benötigt eine langsame, aber stete Propaganda, die die Menschen an die erweiterte Form ihres Gehorsams und den größeren Eingriff der Herrschaft ins private Leben gewöhnt.
Wir können ja mal darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln eine solche Propaganda arbeiten würde ...