Ging es uns früher besser?
Einige Gedanken über Fortschritt und Rückschritt des Menschengeschlechts
Dies ist ein Auszug aus meinem im Herbst erscheinenden Buch “Die Abschaffung des Menschen. Wie das Metaversum uns überflüssig macht” (Europa Verlag). Bestellen könnt ihr es bereits z. B. hier oder hier.
Lange Zeit haben wir auf die Entwicklung der Menschheitsgeschichte so geblickt, dass wir sie rein positiv aufgefasst haben. Noch heute leben wir unter den Auswirkungen des Fortschrittsoptimismus, den das 19. Jahrhundert mit seinen gewaltigen Veränderungen in technischer, wissenschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht mit sich gebracht hat. Der Fortschrittsoptimismus ist ein Produkt der Aufklärung, mit der auch Sicht auf die Geschichte als eine „Entfaltung der Vernunft“ an Bedeutung gewann. Ideengeschichtlich herrschte in den Philosophien von Condorcet und Comte bis Hegel und Marx eine Sichtweise auf die Geschichte vor, die mit einigem Recht die stetige Verbesserung unserer Daseinsbedingungen konstatierte und voraussagte – eine Sichtweise, die zwar nach den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts in gewissen intellektuellen Kreisen einen Dämpfer erhalten hat, deswegen aber noch lange nicht an Wirkkraft verloren hat.
Wissenschaft und Technik unterwerfen sich die Welt in ungebremster Manier, nur schwächlich lassen sich dagegen die Stimmen derer vernehmen, die eine Kontrolle dieser Entwicklung fordern. Zudem hat sich aus dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung im letzten Jahrhundert die Vorstellung entwickelt, dass sich "die ganze Welt zwangsläufig nach westlichem Vorbild entwickeln werde." (Reckwitz).
Der Begriff "Fortschritt" allein beinhaltet schon die Konnotation von etwas Positivem: Man schreitet fort auf ein Ziel hin, dass man dem Ausgangspunkt vorzieht. Man stellt sich den Zielpunkt des Fortschritts als eine Utopie vor, in der die Menschen friedlich und frei, glücklich und gerecht zusammenleben.
Eine weitere Sichtweise auf den Fortschritt besteht darin, weniger das "hin zu" als das "von ... weg" zu betonen: Fortschritt bedeute nicht, einem Idealzustand näherzukommen, der durch ein Mehr an messbarem Wohlstand und Glück charakterisiert ist (denn ein solcher Idealzustand bleibt hypothetisch und entfernt sich dem immer strebenden Menschen ständig), sondern von einem unerwünschten Zustand wegzukommen: Krankheiten zu besiegen, Hunger auszurotten, Unterdrückung zu beenden, Unverstandenes verständlich – und damit beherrschbar zu machen. Der Philosoph Michael Hampe begrüßt diese Art von Fortschritt, den er "nicht als eine Bewegung auf ein Ziel hin, auf die Wahrheit oder die Gewissheit" versteht, sondern "als eine Bewegung weg vom Mythischen, Religiösen, obskur Philosophischen und hin zum Mess-, Berechen- und technisch Beherrschbaren". (Michael Hampe: Das vollkommene Leben)
Ob teleologisch als ein "Hin zu einem positiven Ziel" oder eskapistisch als ein "Weg von einem Zustand des Mangels" aufgefasst, bleibt Fortschritt eben der Weg der Verbesserung des Status quo. Ein Weg, den wir seit Menschwerdung begehen – ja, sogar das Wesen des Menschen selbst ließe sich dadurch charakterisieren, dass er diesen Weg immer schon geht, gehen muss: als das Tier, das Verbesserung anstrebt, das Tier, das sich selbst übertrifft.
Was aber, wenn diese Erzählung nur ein Märchen ist, dessen hilfloser Optimismus nur das Unbehagen am modernen Leben vertreiben soll? Was, wenn unsere Zeit nicht die beste aller möglichen Zeiten ist? Was, wenn wir Menschen "damals" gar nicht so viel schlechter dran waren, wie es gemeinhin erscheint?
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