Man kann ziemlich alt werden, ohne je erwachsen zu werden. Ein Abend mit Martin Walser
Am 28. März 2017 stellte Martin Walser seinen neuen Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ (Rowohlt, 2017) im Düsseldorfer Schauspielhaus vor. Zusammen mit dem Moderator, David Eisermann (WDR), durfte ich ein wenig hinter die Kulissen blicken.
Wir treffen Walser in seinem Hotel in der Düsseldorfer Altstadt. Erst wirkt er müde auf mich, wie er da in sich zusammengesunken im Foyer sitzt, vielleicht mürrisch, in sich gekehrt. Doch bald merke ich, er ist damit beschäftigt, Widmungen zu schreiben. Später tippt er konzentriert in sein Smartphone.
Walser spricht
Während wir auf das Taxi zum Central warten, der Spielstätte des Düsseldorfer Schauspielhauses, das an diesem Abend Walsers Lesung beherbergt, wird Walser gesprächig. Noch mehr aber als zu sprechen hört er zu. Sieht seinen Gesprächspartner neugierig an. Mit seinen Antworten wartet er, Angst vor einer Gesprächspause hat er nicht. Manchmal hört er schlecht, aber manchmal denkt man auch, er tut nur so, um nicht so schnell antworten zu müssen. Oder gar nicht erst.
Bei all diesen Gesprächen merkt man: Es geht Martin Walser um das Wort. Vielleicht weniger um den Gedanken, zuweilen sogar auf Kosten des Gedankens – aber immer zugunsten der Sprache. Wenn Walser spricht, privat, formuliert er schnell und leidenschaftlich. Oft mit spitzer Zunge.
Da kommen Bonmots bei heraus, die ich mir nicht aufschreiben muss, um sie mir zu merken. Noch im Foyer merkt jemand an, nachdem die Rede auf mehrere gemeinsame Reisen kommt, die man mit Walser gemacht hat: „Mit Ihnen kommt man viel rum, Herr Walser.“
Walser nickt: „Aber nie weiter. Immer nur rum.“
Ich müsste mir solche Sprüche zwei Wochen im Voraus anlegen, bei ihm wirkt es wie beiläufig. Oder, wie in diesem Fall, selbstironisch. Öfter aber angriffslustig. Dabei ist er nie verletzend. Die Inspizientin des Theaters fragt später, nachdem wir auf der großen Bühne den Soundcheck gemacht haben, ob ihm die Flasche Wein gefalle, die man ihm in die Garderobe gestellt habe (und von der er bereits zwei Gläser getrunken hat). Walser: „Es ist schon ein guter Riesling. Aber Riesling ist eben an sich nicht gut.“ Und dann setzt er nach: „Ich würde niemals freiwillig Riesling trinken.“ Bei jedem anderen würde es unfassbar arrogant wirken; Walser gelingt es, sogar solche Sprüche charmant rüberzubringen.
Walser trinkt
Der Wein steht oft im Mittelgrund an diesem Abend. Walser erzählt gerne von seinem Lieblingsweißwein (Heida aus dem Wallis) und warum er vom Roten zum Weißen gewechselt ist. Bevor es losgeht, nimmt er noch einen Schluck: „Ich muss mehr trinken. Das Lesen muss mir schwer fallen. Dann muss ich mich konzentrieren.“
Ich frage mich, ob ihm der Weingenuss ein so langes Leben und so einen fitten Kopf beschert hatte. Denke aber dann an George Bernard Shaw und verwerfe meine zu schnell gestrickte Hypothese wieder.
David Eisermann, der Moderator des Abends, der mit Walser bereits mehrere Auftritte bestritten hat, lässt es geschehen. Trinkt mit, ohne mithalten zu wollen, bietet Paroli, lockt aus Walser immer neue Anekdoten hervor. Hinterher sagt Walser über Eisermann: „Dieser Mann kann einem zuhören. Und man kann ihn ruhig aus dem Konzept bringen, dann ergibt sich ein ganz ungeplantes Gespräch. Das finde ich wunderbar.“
So spontan Walsers abseits der Bühne formulierten Bonmots wirken, so wichtig scheint ihm diese Wirkung auf der Bühne zu sein. Bei einem Blick auf Eisermanns umfängliches Skript, mehrere eng beschriebene DINA4-Seiten, die eine gewissenhafte Vorbereitung auf das heutige Gespräch vor einem Publikum von über 400 Literatur-Aficionados erahnen lassen, merkt Walser an: „Stehen da auch schon meine Antworten drauf?“ Kurz bevor die Inspizientin die beiden dann auf die Bühne bittet, schmunzelt Walser: „Ich glaube, auf dem Weg zur Bühne verlieren wir gleich Ihr Skript, Herr Eisermann. Spontaneität ist alles.“
Dann geht es los, wir verlassen die Garderobe, auf zur großen Bühne, ins Rampenlicht, und Walser gibt die Richtung vor: „Lieber Herr Eisermann, seien wir doch da draußen ganz entre nous.“
Walser liest
Er liest, im Stehen, eine Stunde lang. „Statt etwas oder Der letzte Rank“, Walsers neuester Roman, ist vor allem, so der Eindruck, eine Aneinanderreihung von Aphorismen. Darunter geistreich-alberne Sentenzen wie: „Der liebe Gott ist ein Masseur mit Händen aus Musik.“ Zusammengehalten wird dieses Geflecht durch ein Ich, das sein Leben reflektiert. Handlung gibt es keine. Aber ein Innenleben, ein reiches. „Ein Musikstück aus Worten“.
Das Beste an dem, was wir an diesem Abend hören: Fast jeder einzelne dieser Sätze könnte der Anfangssatz für einen tollen Roman sein. Ein angehender Schriftsteller könnte sich hier bedienen; er müsste nur noch den Rest schreiben. Ein Roman, der etwa so anfängt: „Mit offenen Augen im Dunkeln zu liegen, das musste ich üben.“
Oder: „Ich hatte angefangen, alles, was mir passierte, aufzuschreiben. Dadurch bemerkte ich, dass ich mich in einem kreisrunden Gefängnis befand.“
So, bitte schön, weiterschreiben ...
Walser liest leidenschaftlich. Ton ist ihm, der fürs Radio gearbeitet hat, wichtig, das hatte man schon beim Soundcheck gemerkt. „Klingt das für Sie gut?“, fragte er da immer. Und jetzt, auf der Bühne, noch viel mehr. Er liest deutlich, prononciert, mit alemannischer Melodie.
Walser ist immer auch ein Vorlesender, viel mehr als so viele seiner Kollegen. Als würde ihn der Gedanke bewohnen. Er will den Text mit seiner Performance so lebendig machen, wie er in seinem Kopf war, als er entstanden ist.
An machen Stellen wirkt es, als fiele ihm ein Satz gerade erst ein. Anscheinend ist das auch sein derzeitiger modus scribendi, wie er hinterher zugibt: „Ich weiß nicht, wie es zu diesen Sätzen kommt. Meine rechte Hand schreibt das, ich schaue zu.“
Walser plaudert
Im Gespräch mit David Eisermann gibt sich Walser jovial, aber nie dünkelhaft. Was sich jetzt entwickelt, ist geradezu ein lustvolles Spiel von Plauderei. Eisermann und Walser wirken wie Jungs, die sich mit Worten raufen, frotzeln, sich gegenseitig necken. Wobei Walser immer den Ton angibt. Bisweilen lässt er Eisermann auflaufen, schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen über eine Frage, die ihm irgendwie nicht passt. Auf die Anmerkung, man sage, er sei der Goethe vom Bodensee, sieht der Schriftsteller den Moderator fragend an. Schweigt.
„Goethe“, wiederholt Eisermann.
„Wer?“ fragt Walser.
Und lächelt schelmisch.
Einmal gibt Walser Eisermann eine Backpfeife, die so laut schallt, dass die Zuschauer in ihren Sitzen zusammenzucken. Aber Eisermann kann es sich leisten, aus dem Konzept zu geraten, er bleibt cool und wartet ab. Und Walser liefert. Er liefert an an diesem Abend auf Fragen, die man nicht erwartet hatte. Die Antworten noch viel weniger.
Das Publikum, oft atemlos still, merkt, dass es heute ums Ganze geht. Um Walser als solchen. Von „Ehen in Philippsburg“ über die politischen Reden (gerade gesammelt erschienen unter dem Titel "Ewig aktuell") bis zum „Sterbenden Mann“. Es geht ums Lieben, das Leben, das Altern, den Tod. Und die Politik.
„Es geht nicht darum recht zu haben“, sagt Walser mit Blick auf die Debatte mit Ignatz Bubis nach seiner Rede in der Paulskirche 1998. „Es ginge – wenn es überhaupt um etwas geht – darum, dass du in einer Gesellschaft – ungeahndet – sagen darfst, was du glaubst, sagen zu müssen.“
Er sei oft falsch verstanden worden. Bubis wolle er das nicht vorwerfen, aber den Intellektuellen. Die hätten ja mal in seine Romane schauen können, z. B. in „Die Verteidigung der Kindheit“. Da hätten sie gemerkt, was seine Haltung ist.
Er resümiert: „Schriftsteller sollten vielleicht überhaupt nicht als Redner auftreten.“ Das Publikum lacht. „Dann müssen die, die etwas über sie sagen wollen, ihre Romane lesen.“ Das Publikum klatscht.
Oft wird es politisch. Und Walser erlaubt sich Sprüche, die sogar ich unerhört finde: „Ich bin der Meinung, ein Land, das mit seinem Militär derartige Erfahrungen gemacht hat wie das deutsche, dürfte ein für allemal darauf verzichten, wehrhaft zu sein.“ Oder, leichtfüßiger, die aus eigener Anschauung gewonnene Erkenntnis: „Ich glaube, dass das Geld einen viel zu schlechten Ruf hat.“
Walser scherzt
Was allen auf der Zunge liegt an diesem Abend, traut sich David Eisermann den Neunzigjährigen zu fragen: „Woher nehmen Sie die Kraft?“
Aber Walser kontert, und wieder wirkt es spontan, obwohl es doch auf Halde gelegen haben muss: „Ach, hätten Sie doch gefragt: ,Woher nehmen Sie die Schwäche?’ Bei mir geschieht alles durch Schwäche. Kraft“, und damit wendet sich Walser dem Publikum zu, „ich weiß ja nicht, wie dieses Wort für Sie klingt. Also, ich habe in meinem Leben durch Schwäche mehr geschafft als durch Kraft.“
Es sind solche Sätze, mit denen Walser sein Publikum für sich eingenommen hat, an diesem Abend ein weiteres Mal. In all seiner Lust zu lesen, zu trinken, zu reden: Walser wirkt wie ein Junge von neunzig Jahren.
„Ich war immer“, gibt er zu, „in allen Phasen meines Lebens, weniger erwachsen als all die Menschen um mich herum.“ Und dann, vielleicht die Summe dieses Abends, eines Lebens: „Man kann ziemlich alt werden, ohne je erwachsen zu werden.“
Auf die letzte bewundernde Anmerkung Eisermanns, dass Walser auch im hohen Alter nicht plane, mit Schreiben aufzuhören (im Gegensatz zu seinem amerikanischen Kollegen Philip Roth, der mit achtzig sagte, das sei ihm jetzt zu anstrengend), antwortet Walser: „Aufhören? Das verlangt eine Erwachsenheit, die ich nie gehabt habe.“