Der Buchautor und TV-Moderator Richard David Precht gehört schon seit langem zu den Querdenkern unseres Landes. So bezeichnete ihn bereits 2018 die Rhein-Neckar-Zeitung als “Philosoph und Querdenker”. Zudem ist er Träger des Publizistikpreises des Pharmaunternehmens GlaxoSmithKline (GSK), das laut Spiegel Hinweise auf Nebenwirkungen seines Schweinegrippe-Impfstoffs Pandemrix ignoriert hat:
Jetzt leiden rund 1300 der Geimpften lebenslang an Narkolepsie, einer schweren neurologischen Erkrankung, die sie immer wieder unerwartet einschlafen lässt.
Das sei, so der Spiegel, ein Paradebeispiel dafür, was passieren kann, wenn Querdenker nicht gehört werden.
Wir sollten also Querdenker wie Precht hören und vor allem lesen, um die Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal zu begehen. Es wäre fahrlässig, würden wir nichts aus der Geschichte lernen.
Zu Wort gemeldet hat sich Precht bezüglich der Corona-Pandemie im letzten Jahr des Öfteren: Er halte es für “eine sehr kleine Bedrohung”, “etwas vergleichsweise harmloses, etwas was so gefährlich ist wie ‘ne Grippe, mit ‘ner Mortalitätsrate von 0,3% der Betroffenen, sagte er im März 2020.
Drei Monate später sagte er gegenüber dem "Handelsblatt", man habe bei der Eindämmung des Coronavirus "offenkundig in Teilen überreagiert". Damals prognostizierte er weise, dass es keinen zweiten Shutdown geben werde. “Das können wir gar nicht bezahlen, wenn wir sehen, wie schon der erste die Weltwirtschaft an den Rand des Ruins getrieben hat”, so Precht.
Das sind keine Aussagen, mit denen man es sich leicht macht in diesen Zeiten, in denen es nur einen medialen Ton zu geben scheint. Doch Precht wäre nicht der Querdenker, als der er schon seit Jahren gilt, würde er seine Ansichten nicht philosophisch ausführlich begründen.
Und so schien in diesem Jahr schließlich sein langersehntes Buch zur Lage der Nation, das verspricht, seine kritischen und unbequemen Einsichten einmal in konziser Darstellung vorzulegen.
Es handelt sich eher um einen ausgedehnten Essay und trägt den unscheinbaren Titel “Von der Pflicht”. Das Werk lässt sich grob in zwei Teile gliedern; im ersten geht es um die Corona-Maßnahmen und die Rechte und Pflichten des “Staatsbürgers” in Zeiten der Krise, im zweiten geht es dann, allgemeiner, um seinen bereits 2011 vorgetragenen Vorschlag, in Deutschland zwei sogenannte “Pflichtjahre” einzuführen. Daher möchte ich auch diese Buchbesprechung in (mindestens) zwei Teile gliedern, sodass es im ersten Teil vorwiegend um Prechts Sicht auf die Corona-Maßnahmen sowie um das Verhältnis des Individuums zum Staat geht.
Den Corona-Maßnahmen gehorchen ist wie Steuern zahlen
Den Corona-Maßnahmen zu gehorchen, sagt Precht, sei wie Steuern zahlen. Es liege eine „Verpflichtung“ gegenüber “unserem Staat” vor, der einfach nachzukommen sei. Es sei zwar legitim, über diese Verpflichtung zu denken, was man wolle, aber das solle man nur zu Hause, seiner Frau oder seinen Freunden sagen: Der Bürger ist nicht angehalten, seine Kritik öffentlich zu äußern. Wenn diese Verpflichtung vorliegt, muss er ihr einfach gehorchen, sonst wäre es ja keine Verpflichtung. Es solle in der Demokratie dem guten Staatsbürger nicht darum gehen, was er über die Gesetze denke, sondern allein darum, dass er ihnen Folge zu leisten habe.
Aber sind denn aber in der Demokratie Gesetze und Maßnahmen denkbar, für die das nicht gilt? Oder gilt das kategorisch für alle Anordnungen, die erlassen werden? Sollten wir nicht Grenzen dessen diskutieren, wo der Staat in „persönliche Freiheiten“ eingreifen darf? Geht es nicht darum, die roten Linien abzustecken, schleichende Veränderungen des Selbstverständlichen zu beobachten und den Staat nicht der autoritären Versuchung erliegen zu lassen? Darf der Staat alles, auch über Grundrechte hinweggehen, nur weil er es kann? Ist ein guter Staatsbürger der, der alles mitmacht, oder einer, der kritisch hinterfragt, sein Gewissen sprechen lässt, selber denkt und handelt und sich einbringt? Lebt die Demokratie nicht vom mündigen Bürger? Müssen wir alles klaglos hinnehmen und folgsam sein? Ab wann wäre ziviler Ungehorsam nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht? Wie sollte ein freier Mensch mit staatlichen Gesetzen umgehen? Welche moralische Verpflichtung besteht, den Gesetzen zu gehorchen?
Diese und viele weitere Fragen ergeben sich, wenn man Prechts Buch “Von der Pflicht” liest. Zu ihrer Beantwortung ist es sinnvoll, die gedanklichen Prämissen, auf denen Prechts Essay beruht, deutlich zu machen:
Prechts Prämissen
Die Gefährlichkeit der Pandemie
Als erstes ist zu bemerken, dass er von seiner Aussage, es handle sich um keine große Bedrohung, mehr oder weniger stillschweigend abgerückt zu sein scheint. Die Pandemie ist eine sehr gefährliche Situation - Begründungen, etwa Berufungen auf Virologen, Epidemiologen oder Immunologen, finden sich für dieses Zurückrudern keine. Man muss Prechts zugrundeliegende Behauptung, das Infektionsgeschehen sei derart gefährlich, dass es all die Maßnahmen rechtfertige, einfach für bare Münze nehmen. Von einem Philosophen wäre hier zu erwarten gewesen, dass er darüber öffentlich Rechenschaft ablegt, wie er zu der differierenden Einschätzung und zu seinem Sinneswandel gekommen ist. Doch Stellen, an denen Precht eingesteht: “Ich habe mich geirrt - Ich möchte mich entschuldigen. Und hier sind die Gründe” finden sich keine.
Die Harmlosigkeit und Angemessenheit der Maßnahmen
Als zweites ist festzuhalten, dass Precht davon ausgeht, dass die Maßnahmen im Ganzen eher unbedenklich sind und der vorgestellten Bedrohung angemessen: Sie stellen weder für die Kinder noch für die Risikogruppen noch für die Breite der Gesellschaft eine größere Gefahr dar. Auch hier vollzieht er einen stillschweigenden Sinneswandel: Die Politik in Deutschland habe nicht überreagiert. Er schreibt:
Alles was den Menschen abverlangt wurde, waren ein paar kleine Einschränkungen zum Schutz der Schwachen.
Keine Rede mehr davon, dass die Politik “offenkundig überreagiert" habe. Zwar ist er der Meinung, dass nicht alle Maßnahmen sinnig oder richtig waren, und dass man jetzt sogar darüber diskutieren dürfe - aber man dürfe sich eben nicht entpflichten. D. h., auch die Befolgung und Durchsetzung von Maßnahmen, mit denen man unerhörtes Leid über die Menschen gebracht hat, gehören seiner Meinung zur Bürgerpflicht.
Auch seine einstige Gewissheit, dass der erste Lockdown die Weltwirtschaft an den Rand des Ruins getrieben hat, scheint nun vergessen zu sein. Und wenn wir den Gewöhnungseffekt an die Neue Normalität betrachten - die Gefahr, dass sich die Politik an die neu gewonnene Verordnungsmacht gewöhnt und sie nicht mehr hergeben will, die Gefahr, dass sich der Mensch an die überhand nehmende Überwachung, den Health-and-Order-Staat, die Denunziationsmentalität gewöhnt, die Gefahr, dass sich die Journalisten und die mediale Öffentlichkeit an die Vereinseitigung des Diskurses gewöhnen, die Gefahr, dass wir uns an die Verknüpfung unserer Grundrechte mit dem regelmäßigen Konsum von Produkten der Pharmaindustrie gewöhnen - darüber verliert Precht nur wenig Worte - und wenn, dann sind sie in seine Einschwörung auf den omnipräsenten Pflichtenzusammenhang eingebunden, dass sie nicht mehr ins Gewicht fallen.
Wenn wir Prechts Argumentation folgen wollen, müssen wir also überlegen,
erstens: ob diese Prämissen den Tatsachen entsprechen, und nichts Wesentliches ausgelassen wurde
und zweitens, ob wir das, was Precht und wir wollen, mit dem Rezept, das Precht vorschlägt, überhaupt erreichen?
Sprich: Wir könnten mitgehen, wenn die Prämissen von außerordentlicher Bedrohung und Angemessenheit der Maßnahmen wahr wären, wenn die Aspekte der bedenklichen Veränderung unserer politisch-gesellschaftlichen Mentalität einbezogen wären und wenn dann auch noch eine Einschwörung des Menschen auf Pflichttreue dem Staat gegenüber das einzige Mittel wäre, die jetzige Bedrohung zu überstehen und sie auch für weitere Krisen und die Zukunft einer offenen Gesellschaft angeraten wäre.
Prechts hält krampfhaft an einem längst kollabierten Narrativ fest
Doch das Narrativ ist längst kollabiert - es hat keine faktische Grundlage mehr. Vom fraglichen Nutzen des PCR-Tests und die fehlerhafte Einordnung von Fallzahlen, den fraglichen Nutzen von Lockdowns und weiteren nicht-pharmazeutischen Interventionen über den DIVI-Intensivbettenskandal, den unter 2 % liegenden Anteil der Covid19-Patienten an der Krankenhausverweildauer 2020, die Schließung von Krankenhäusern und der Rückbau von Intensivbetten in Zeiten der Pandemie, die zahlreichen Fehlanreize des Staates, die Korruption und der Lobbyismus in Sachen Tests und Masken bis hin zur Ignorierung alternativer Heilmittel und der Beförderung der Impfapartheit … wer nach all den in zahlreichen Studien erforschten und von offiziellen Stellen bestätigten und teilweise in den herkömmlichen Medien berichteten Fakten noch immer an dieses Narrativ glaubt, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen.
Der Verdacht besteht: Für Precht muss dieses Narrativ bestehen bleiben, weil er mit seiner Pflichtethik ganz andere Ziele verfolgt, als nur die Bewältigung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite.
Auch die zweite Prämisse, dass die Maßnahmen vergleichsweise harmlos seien und daher kritiklos zu akzeptieren, ist für jeden hinfällig, der sich sein Bauchgefühl bewahrt hat. Dafür muss man wahrlich kein Philosoph sein, um das Leiden zu sehen oder auch nur so viel Empathie aufbringen zu können, dass man es sich zumindest vorstellen kann, weil es bislang noch außerhalb der Sichtweise seines kleinen Blickradius liegt.
Wenn Precht sagt: “Alles was den Menschen abverlangt wurde, waren ein paar kleine Einschränkungen zum Schutz der Schwachen”, so sieht er sicherlich nicht auf die Nebenfolgen und Kollateralschäden, die die staatlichen Übergriffe mit sich gebracht haben und bringen werden: für die Kinder, deren Leid er leugnet. So sagt er:
Die tatsächlichen psychosozialen Schäden der Corona-Maßnahmen kennen wir nicht gut genug. Den bislang vorgelegten empirischen Studien misstraue ich zutiefst. Wenn zum Beispiel nach Art und Ausmaß physischer und psychischer Gewalt gefragt wird, denen Kinder in den Familien derzeit ausgesetzt sind, wüsste ich schon ganz gern, ob das in den Jahren vor Corona mit gleicher Akribie erforscht wurde.
Man muss wahrlich kein Kinderpsychiater sein, um zu wissen: Für Kinder hat der Lockdown drastische Konsequenzen. Kinder haben das Recht auf Bildung und das Recht auf soziale Kontakte. Trennung von ihren wichtigsten Bezugspersonen, Schulschließungen und gesperrte Spiel und Sportplätze unterbrechen ihr normales Leben und können erhebliche Belastungen nach sich ziehen. Der Kontakt mit Gleichaltrigen ist für die Entwicklung der Kinder unverzichtbar wichtig. Eltern, die Lehrer ersetzen müssen, sind oft überfordert, insbesondere weil sie gleichzeitig im Home-Office arbeiten oder vor dem Ende ihrer beruflichen Existenz stehen.
Kinder, die Tag für Tag zu Hause sind, sind viel mehr Potenzieller Gewalt und Missbrauch ausgesetzt. Wenn es für die Kinder kein entkommen gibt, nicht zu einem Freund, nicht auf einen Spielplatz. Wenn die Sozialarbeiter nicht mehr in die Wohnung kommen. Wenn die Treffpunkte für sozial schwache Familien seit Wochen zu sind. Lehrer oder Kinder bekamen die Kinder Monate lang nicht mehr regelmäßig zu Gesicht, wer soll da das Jugendamt informieren?
Depressionen und Suizide unter Jugendlichen sind auf einem Allzeithoch. Die Triagesituation in den Kinder- und Jugendpsychiatrien gibt seit Monaten Anlass zu größter Besorgnis - war es das wert?
Aus der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2020 geht ein eklatanter Anstieg des sich im Umlauf befindlichen kinderpornografischen Materials um über 50 Prozent hervor. Schwere Misshandlung von Kindern stieg um 10 Prozent, sexueller Missbrauch an Ihnen um ca. 7 Prozent.
Laut Europol ist allein der Konsum von Missbrauchsabbildungen um rund 30 Prozent gestiegen. Ein Bericht der IWF (der britischen Internet Watch Foundation) dokumentiert für das Jahr 2020, dass ein Drittel der kinderpornografischen Websites Vergewaltigungen oder sexualisierte Folter von Kindern zeigten. Dabei waren über die Hälfte der Kinder jünger als 10 Jahre, zwei Prozent unter 2 Jahren.
Das NCMEC (National Center for Missing & Exploited Children) in den USA registrierte laut EU-Kommission im April 2020 einen Anstieg von mehr als 400 % bei verdächtigen Fällen: Waren es im April 2019 noch rund 1 Mio berichteter Fälle, so lag die Zahl im April 2020 schon bei über 4 Mio. Das BKA hält fest:
Durch Lockdown, Homeschooling und weniger Freizeitaktivitäten seien die Kinder den Gefahren im Internet vermehrt ausgesetzt. Gleichzeitig seien auch mehr Täter durch den Lockdown im Netz aktiv.
All das wurde während der letzten Jahre immer wieder festgehalten und moniert, von Experten wie Prof. Dr. Gerald Hüther, Prof. Dr. Christof Kuhbandner, Prof. Dr. Dr. Christian Schubert, Prof. Dr. Manuel Schabus, Prof. Dr. Karin Skala, Prof. Dr. Harald Walach, Michael Hüter u. v. a.
Während Precht unsere Tugendhaftigkeit und unser Pflichtbewusstsein gerade gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft so vehement einfordert, sind es doch gerade die aller schwächsten die unter der durch den Staat verordneten Tugendhaftigkeit am meisten zu leiden haben. Das alles und noch viel mehr war auch auf internationaler Ebene schon im Sommer 2020 vorauszusehen:
Ein Arbeitspapier der UN ging davon aus, dass 500 Millionen Menschen durch die globale Wirtschaftskrise in Armut gestürzt werden könnten. In den USA rechnete die FeD mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf 20-25 %. Bisher verloren dort infolge der Krise bereits 36,5 Millionen Menschen ihre Jobs. Ein Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF dokumentierte bereits im September 2020 Pandemie und Lockdownmaßnahmen hätten 150 Millionen Kinder zusätzlich in Armut gestürzt. In der EU wird die Wirtschaft dieses Jahr um gut 7 % schrumpfen, in Deutschland auf 80-85 % der normalen Wirtschaftsleistung. Hier ist Kurzarbeitergeld für etwa 10 Millionen Beschäftigte angemeldet. Es wird mit einer halben Millionen mehr Arbeitslose gerechnet.
Auch die Anzahl an Suiziden nimmt zu. 75.000 Amerikaner könnten aufgrund von Drogen oder Alkoholmissbrauch und Selbstmord infolge der Coronavirus Pandemie sterben. Die australischen Behörden rechneten mit einem Suizidanstieg von 50 % , damit wäre die Anzahl zehnfach höher als die Zahl der CoronaToten.
Viele Menschen, die krank waren und sind, trauen sich nicht mehr in die Kliniken, weil sie Angst haben, sich mit dem Killervirus zu infizieren. Ärzte untersuchen ihre Patienten nicht mehr so, wie es angemessen wäre. Viele nicht lebensnotwendigen ärztlichen Termine wurden wegen Corona abgesagt oder verschoben Vorsorgeuntersuchungen werden nicht gemacht. 30 Millionen Operationen werden verschoben.
Der psychische Stress erhöht bei Menschen über 50 das Herzinfarktrisiko im gleichen Maße wie rauchen Diabetes oder Bluthochdruck. Menschen gehen nicht mehr in die Notaufnahme, obwohl sie leichte Schlaganfälle haben. In Fällen mit leichten Symptomen gab es etwa im Klinikum Hanau 50 % weniger Notaufnahmen - d. h. dass schweren Anfällen weniger gut vorgebeugt werden kann. Das gleiche gilt für Herzinfarkt Patienten. Es gibt unterbrochene Versorgungsversorgungsstrukturen bei Tumorpatienten. viele krebskranke bekommen Monate lang die Nachricht, dass ihre nächste Untersuchung verschoben werden müsse. Die Lebensqualität derer, deren Operationen Monate lang verschoben werden mussten sinkt drastisch. Auch die Lebensqualität der alten Menschen sinkt durch den Lockdown drastisch. Sie konnten keinen Sport treiben, hatten weniger Bewegung, viel weniger soziale Kontakte, litten an Einsamkeit und Isolation, hatten keinen Urlaub, kein Besuch von Veranstaltungen war möglich - für viele die einzigen Aktivitäten die ihnen noch Lebensmut und Freude geben. Prof. Dr. Karina Reiss und Prof. Dr. Sucharit Bhakdi schreiben:
Während wir mit drastischen Mitteln zu verhindern suchten, dass diese Menschen an COVID-19 sterben, raubten wir Ihnen gleichzeitig auf andere Art ihrer Lebensqualität und damit verbunden auch ihre Lebenszeit.
Es geht dabei auch um das Recht der individuellen Entscheidung und das Recht eines würdevollen Lebensendes:
Ein Großteil dieser Menschen fürchtet sich nicht vor dem Lebensende. Wenn es soweit ist, dem Tod zu begegnen, werden Menschen zunehmend gelassen. Menschen, die wund gelegen ihr Bett schon sehr lange nicht mehr verlassen konnten, Menschen bei denen der Tumor sich im ganzen Körper ausgebreitet hat, Menschen die unendlich leiden, weil die Schmerztherapie nicht mehr greift, Menschen, die sehr oft gar nicht mehr können - und vielleicht auch nicht mehr wohnen. Menschen, die manchmal darauf warten dass das Schicksal sie von ihrem Lebens leid für ihn ist es am Ende egal, ob ihre liebsten noch Corona mitbringen, so lange jemand da ist um in die Arme zu halten, um sich zu verabschieden vor der letzten Reise und den ersehnten Frieden zu finden.
Gerade die Ärmsten der Welt trifft der Lockdown am härtesten. In Indien zum Beispiel 100 Millionen Tagelöhner denen nichts mehr zum Überleben bleibt. Kinder, die ihre einzige Tagesmahlzeit normalerweise in der Schule bekamen, dürfen das Haus nicht mehr verlassen, auch sie hungern und verhungern. Der Leiter des Welt Ernährungsprogramms der UN warnt vor einer Hunger Pandemie von biblischen Ausmaßen.
In Rechnung zu stellen sind schließlich auch die politischen und die gesellschaftlichen Entwicklungen, die unsere Kultur unwiederbringlich zum Schlechteren verändern könnten: die vermehrte Überwachung, die an kein klares Kriterium geknüpfte Einschränkung von Grundrechten, die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministeriums, das Durchregieren per Verordnung, die Untätigkeit der Judikative, das autoritäre Herrschen mittels expertokratischer Legitimation, die klebrige Nähe zwischen Regierung, Big Tech, Big Pharma und überstaatlichen Organisationen wie dem WEF.
Auf gesellschaftlicher Ebene das Gewöhnen an Denunziation und Ausgrenzung, an Zensur und Kontrolle, an eine Impfpflicht bzw. an die Impfapartheit, schließlich an Gehorsam und Autoritätshörigkeit.
Es besteht nach meinem Dafürhalten kein Zweifel daran, dass all diese Nebenfolgen in krassestem Widerspruch zu dem erhofften Nutzen der Maßnahmen stehen. Wenn man dies begreift, kann für eine blinde Staatspflichtenethik in Zeiten kein Platz mehr sein.
Die Grenze der Staatspflichtenethik
Precht räumt ein, dass auch eine Grenze habe: Jeder Staatsbürger habe das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die angewiesene Pflicht der humanitas widerspricht. Widerstand gegen staatliche Willkür sei moralischen Bürgerpflicht. Die Gebote der Menschlichkeit setzen also der Pflichterfüllung eine Grenze.
Hier wird seine Staatspflichtenethik für einen Moment sehend, wenn auch leider nur kurzsichtig. Denn er macht das Kriterium, ab wann diese humanitas tatsächlich durch moralisch begründete Entpflichtung als Wert verfolgt wird, von zwei seltsamen Kriterien abhängig: Zum einen dürfen es keine waghalsigen Spekulationen gegenüber der Gefährlichkeit des Virus sein und zum anderen keine unbegründeten Verdächtigungen gegenüber dem Staat. Jeder, der die Gefährlichkeit von Covid-19 nicht so einschätzt, wie es die Regierung tut, kann automatisch nicht mehr im Sinne der humanitas handeln. Ebenso wenig wie jeder, der die Regierung dunkler Machenschaften verdächtigt, im Sinne der humanitas handeln kann.
Es dürfte deutlich sein, das beide Kriterien höchst vage und subjektiv sind. Wenn sie gelten würden, müsste der Staat nur eine Gefahr offiziell festlegen, schon wäre jeglicher Widerstand unmoralisch - da seine Gründe ja immer nur rein spekulativ wären und auf Verdächtigungen beruhend. (Dazu mehr im zweiten Teil meiner Rezension.)
Für das Recht auf und die Pflicht zum Widerstand ist es jedoch unerheblich, weil dieser dann eben wiederum abhängig vom staatlichen Narrativ wäre und somit unmöglich. Zumal die meisten Menschen, die die Maßnahmen kritisieren, ja gar keine Corona-Leugner, nicht einmal Verharmloser im eigentlichen Sinne sind, und auch keine Weltverschwörung hinter dem Geschehen vermuten. Die meisten Menschen haben einfach nur Angst um ihre Kinder, das Leid der weggesperrten und instrumentalisieren älteren Menschen, den Wohlstand und die Zukunft der Gesellschaft sowie die Verfassung unseres Rechtsstaats - und wollen dabei nicht willfährig mitmachen.
Für das Recht auf und die Pflicht zum Widerstand ist allein maßgeblich, ob der Mensch seinem Gewissen, d. h. seinem moralischen Empfinden, folgt oder nicht. Wenn er nach reiflicher Überlegung zu der Einsicht gekommen ist, dass sein Mitmachen, sein Abnicken und sein schweigendes Zusehen unverhältnismäßiges Leid verursachen - dann ist er moralisch berechtigt und vielleicht sogar verpflichtet, sich dem zu entziehen, nicht mitzumachen und sogar gegen geltendes Recht zu verstoßen.
Falsche Dichotomien
Precht macht dabei absurde Spannungsverhältnisse auf z. B. den zwischen Gefahr und Maßnahme. Doch das Gegenteil von Gefahr ist nicht die Maßnahme, sondern Sicherheit oder Frieden. Er impliziert also dass das Vorhandensein einer Gefahr unmittelbar die Notwendigkeit ihrer Eindämmung oder Abwendung bedingt, und zwar von staatlicher Seite. Damit existiert von Anfang an die Möglichkeit, die Gefahr auszuhalten, ihr individuell zu begegnen oder sie auch gesellschaftlich als Teil des Lebens zu akzeptieren, nicht mehr.
Ein weiterer Aspekt dabei ist: Gefahr ist unter diesen Auspizien eine absolute Größe, der nur die menschenverachtende Kälte des Imstichlassens gegenüber steht. In der Realität sind Gefahren / Risiken aber gestreut und eine realistische Neubewertung der Gefahr dient nicht unbedingt der Verharmlosung, sondern der Vermeidung von Folgeschäden durch unbotmäßige Intervention. Denn: Die ergriffenen Maßnahmen verhalten sich nicht-linear zur Gefahr, sprich es gilt nicht: je mehr Gefahr, desto mehr Maßnahmen werden gebraucht oder: je mehr Maßnahmen, desto weniger Gefahr, sondern Interventionen in komplexen Systemen bewirken Folgeeffekte bis hin zu Kaskaden und Kettenreaktionen. Für ihn scheint die Maßnahme kein eigener Schadensfaktor zu sein, dessen Schädigungspotenzial gegen das der Gefahr abgewägt werden müsse, so dass der Gesamtschaden minimal gehalten wird. -- Dahinter steht ein frühkindliches Retter- und Helfernarrativ, das die Gefahr letztlich als das böse Monster setzt, vor dem der tapfere Held die Schwachen rettet.
Das gleiche gilt für das von ihm aufgespannten Gegensatzpaar Besonnenheit - Wahn. Die abnickenden Konformisten seien besonnen, die Rebellen seien wahnhaft. Precht versteht offenbar nicht, dass auch der Kritiker besonnen sein kann, weil er nicht sieht, was der Besonnene in seine Überlegungen einkalkuliert. Wir haben es hier nicht mit dem Gegensatz von Risikobereitschaft und Sicherheitsdenken zu tun, sondern mit dem Gegensatz von rationaler Vorsicht und irrationaler Angst, ja sogar Aberglauben.
Die Rhetorik
Besonderes Augenmerk muss man auf die von Precht verwendete Rhetorik legen, die sein Weltbild in all seiner Eindimensionalität deutlich wiedergibt.
Die Kritiker
In diesem Weltbild sind die Kritiker der staatlichen Corona-Maßnahmen “notorische Nörgler”, die ein sinnloses Rebellentum zur Schau tragen wollen. Sie seien in ihrer unbegründeten Trotzreaktion rücksichtslos und kindisch, sie “benehmen sich wie Kinder, die sich zu unrecht zu Stubenarrest verdammt fühlen.
In Interviews entblödet er sich nicht einmal, von Maßnahmenkritikern als von “Corona-Leugnern” zu sprechen, ohne sich je mit den Inhalten der Kritik auseinanderzusetzen. Auf die Frage, ob überhaupt eine Chance auf einen gemeinsamen Konsens oder eine ertragreiche Unterhaltung mit den „Coronaleugnern“ besteht, antwortet er mit einem klaren Nein, das die ideologischen Gegner zu Feinden ausdeutet und pathologisiert:
Die psychische Grundstruktur dieser Menschen besteht nicht darin, die Wahrheit herauszufinden, sondern Recht zu haben.
All diese Menschen sind in Prechts Weltbild also rechthaberische Coronaleugner: Der Chemienobelpreisträger Michael Levitt, Professor John Ioannidis, Prof. Jay Battarchaya, Prof. Ulrike Guérot, Prof. Dr. Dr. Christian Schubert, Prof. Kuhbandner, Prof. Ulriker Kämmerer, Prof. Martin Kulldorff, Prof. Sunetra Gupta, Prof. Harald Walach, Martin Sprenger, Frank Furedi, Peter Hitchens, Giorgio Agamben, Getrud Höhler, Heribert Prantl, Juli Zeh, Kathrin Schmidt, Prof. Karina Reiss, Prof. Sucharit Bhakdi, Prof. Klaus Püschel, Dr. Stefan Hockertz, Prof. Martin Haditsch, Prof. Knut Wittkowski, Friedrich Pürner, Prof. Dr. Carsten Scheller, Dr. Angela Spelsberg, Prof. Gismondo, Prof. Pablo Goldschmidt, Prof. Stefan Hockertz, Prof Gérard Krause, Prof. Karin Mölling, Prof. Michael Osterholm, Prof. Pietro Vernazza … das sind alles notorische Nörgler, mit deren Argumenten gegen die Maßnahmen sich Precht nicht auseinandersetzen will, weil die Diffamierung einfacher ist, als die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fakten, die einem Weltbild widersprechen, das man einmal eingenommen hat, als es bequemer und opportuner zu sein schien. Wenn sie sich einmal entschieden haben, würden die meisten Menschen lieber dabei bleiben, falsch zu liegen, als zuzugeben, dass sie sich geirrt haben. Das ist zwar eine eherne Wahrheit über die condition humaine, doch einem, der sich Philosoph nennt, steht sie nicht gut zu Gesicht.
Die Befürworter
Im Gegensatz dazu findet Precht es beeindruckend, dass sich Menschen an staatliche Regierungsmaßnahmen halten – unabhängig davon, was sie von der ein oder anderen Verordnung denken. Er findet es also richtig, dass Menschen, die bestimmte Regierungsmaßnahmen ablehnen oder kritisieren, diese Kritik, diesen Dissens nicht zum Ausdruck bringen, sondern herunterschlucken und den Verordnungen der Regierung weiterhin Folge leisten. Diesem Gehorsam kann dementsprechend also nur entweder eine gewisse Einsicht in den Plan, die wohlwollenden Bestrebungen der Regierung für das größere Wohl zugrunde liegen oder eben ein aus der Selbstwahrnehmung der eigenen Stellung als Staatsbürger resultierendes Vertrauen in den Staat.
Doch beides rechtfertigt nicht die Unterlassung legitimer Kritik. Der Ruf danach, die eigenen Werte und Überzeugungen für das vermeintlich größere Wohl (dessen Inhalt natürlich immer vom Staat selber vorgegeben wird) zurückzustellen ist ein Charakteristikum faschistischer Systeme. Der Mensch soll sein Leid, sein Gewissen und seine Kritik zurückstellen um die Ideale der Ideologie nicht zu gefährden.
Unterlasse ich meine Kritik aber, weil ich dem Handelnden (in dem Fall dem Staat) einfach vertraue oder weil ich ihm gegenüber ein gewisses Verpflichtungsgefühl empfinde, handele ich nicht nur entgegen meiner eigenen Moral, sondern mache mich auch mitschuldig an den eventuellen Schäden.
Der Fürsorge- und Vorsorgestaat
Das führt uns zum dritten Punkt in der Analyse von Prechts Rhetorik: Dem Staat. Die penetrante Verwendung des Begriffes “Vorsorge- und Fürsorgestaat” zeigt, in welche Richtung es geht.
Prechts Staatsbild liegen im wesentlichen drei Mechanismen seiner Wahrnehmung zugrunde. Zum einen die Personifikation und Individualisierung des Staates: Precht verkennt vollkommen die vorhandenen Machtverhältnisse, der Staat, den er öfter auch “unseren Staat” nennt, wird behandelt wie ein ebenbürtiges Individuum mit Rechten und Pflichten und nicht wie ein abstraktes Mittel der Gesellschaft zur Ordnung ihrer selbst. Er wird beschrieben, als wäre er eine Person, die für uns in Vorleistung geht und der gegenüber wir uns nun endlich einmal dankbar erweisen sollten. Der Staat “verordnet” in Prechts Worten nicht nur, er “fordert”, “bittet” und “fleht”.
Der zweite Mechanismus ist die Paternalisierung des Staates. Precht sieht den Staat als sich sorgendes, manchmal strenges, aber auf unsere Mithilfe angewiesenes Elternteil, er vergleicht Staatsbürger mit braven und trotzigen Kindern, auf jeder zweiten Seite findet sich das Wort: liberaldemokratischer Vorsorge und Fürsorgestaat, als wäre der Staat eine Mischung aus Vater und Lebensversicherung. Daher sind auch Staatskritiker in diesen Zeiten für ihn “wie Kinder, die aus ihrer Sicht unverschuldet zu Stubenarrest verdonnert werden” - also eigentlich unmündige Menschen, die man noch dazu erziehen müsse, die Weisheit und Voraussicht des allgütig vorsorgenden Vaters Staat mit seiner mütterlichen Fürsorge einzusehen. Es geschieht schließlich zu eurem Besten, Kinder, vergesst das nicht.
Als drittes haben wir die Glorifizierung des Staates: Das Wohlwollen der Staatsgewalt anzuzweifeln scheint für Precht vollkommen absurd. Zitate wie
Hat man sich den Staat erst mal als willkürlichen Verweigerer der Grundrechte vorgestellt. traut man ihm auch schnell alle erdenklichen hinterhältigen Beweggründe zu.
und
Das politische Feld besteht danach aus zu allem entschlossenen Kriminellen und nützlichen Idioten die Ihnen willig folgen, unfähig dazu die Folgen ihrer Helferdienste zu übersehen.
sind nur einige der idealisierenden Beschreibungen der Staatsgewalt. Weiterhin setzt Precht den Staat in Kontrast zum Virus:
Kann man das unsichtbare Virus schon nicht bekämpfen, so nun doch den sichtbaren Staat, der es einzudämmen versucht.
Der sichtbare Staat also als Gegensatz zum unsichtbaren Virus. Der Staat ist weder eine sichtbare Person noch Personengruppe, sondern ein abstraktes Konstrukt und damit genauso wenig sichtbar wie der Virus, auch wenn wir metonymisch stehende Symbole für ihn finden können. (Im Gegenteil wenn man es genau nimmt ist der Virus nicht unsichtbar, sondern nur für unser Auge nicht zu erkennen. Ein Staat hingegen bleibt immer abstrakt.)
Für Precht ist Deutschland ein Staat mit Herz. So schreibt er: “Seit wann schlägt das Herz von Faschisten für die Schwachen?” Er scheint dabei jedoch zu vergessen, dass es gerade die Angewohnheit von Faschisten ist, sich ein größeres Wohl zu suchen um ihre Ideologie zu legitimieren, dazu gehört immer auch die eine Umkehr von Opfer und Täter, Starkem und Schwachem in einer Gesellschaft.
Die Moral
Precht behauptet, dass es in unserer heutigen Gesellschaft schlecht um innere Werte, Moral und Tugend stünde und überlegt, wie man in zukünftigen Krisen und generell die Moral, das Pflichtbewusstsein stärken könne.
Kritiker sind pflichtvergessen, tugendlos und unmoralisch - man müsste sie zu besseren Menschen erziehen, dann würde ein solch infantil-renitentes Verhalten, wie wir es während der Pandemie gesehen haben, nicht vorkommen.
Zugleich glaubt Precht an eine Hierarchie der Moral und der Pflichten, wenn er etwa von der “Rangordnung staatlicher Schutzpflichten” spricht. Gesundheit vor Freiheit, Solidarität vor Bürgerrechten, Gemeinwohl vor Eigennutz.
Das Reich des Guten scheint für ihn übersichtlich geordnet zu sein, und der Staat, “unser Staat”, hat in Platonischer Manier Einblick in diese Wertehierarchie, sodass er entscheiden kann, wann der Untertan welchem Wert zuerst nachzukommen habe.
Doch mit einer Moral, die stets allein nach einer Hierarchie des Üblen und des Guten gewichtet, kommt man wahrscheinlich nicht sehr weit. Abgesehen davon, dass vielleicht nicht jede moralische Abwägung vor einem inneren internationalen Gerichtshof vollzogen werden muss. Ob ich einem in Not geratenen Bekannten Geld leihe oder nicht, ob ich meine Kinder taufen lasse oder ob ich einer wohltätigen Organisation hundert Euro mehr oder weniger spende – all dies sind Fragen, die nicht unbedingt vor einem höchsten Tribunal der Moral entschieden werden müssen. Mit der Idee des Guten als höchster Instanz, um sich zu orientieren, ist es im Alltag so eine Sache. Auch nach Platon nämlich gibt es eine strenge Hierarchie der Tugenden. Eine Skala, auf der sich immer genau ablesen lässt, was eine bestimmte Haltung oder Eigenschaft moralisch wert ist. Und weil das so sein soll, gibt es auch keine Konkurrenz zwischen den Tugenden. Gerechtigkeit und Wahrheit, Ehrlichkeit und Vaterlandsliebe, Tapferkeit und Familiensinn – all dies steht, nach Platon, von Natur aus nicht miteinander in Konflikt. Der weise Mensch, der die Idee des Guten in sich aufgenommen hat und danach lebt, weiß das alles so gut zu sortieren, dass niemals ein Problem entsteht. Allenfalls gibt es Scheinkonflikte.
Aus heutiger Sicht ist dies eine ziemlich merkwürdige Idee. Und eigentlich war sie es auch schon zu Platons Zeit. Im Dionysostheater von Athen feierte das Publikum die Schauspiele des Aischylos, des Euripides und des Sophokles. Die beiden Letztgenannten lebten noch als hoch geehrte Greise, als Platon ein junger Mann war. Und wovon handelten ihre Tragödien? Von nichts anderem als von den Konflikten der Tugenden und ihrer gelegentlichen Unvereinbarkeit. Denn genau dies ist der »tragische« Konflikt: dass man eine Entscheidung zwischen zwei Gütern, zwei Pflichten, zwei Gefühlen oder zwei Zielen treffen muss, die augenscheinlich gleich wichtig, aber absolut unvereinbar sind.
Bei Sophokles ist dies das Leitmotiv aller seiner Stücke. Die Gesetze der Menschen und die Gebote der Götter geraten miteinander in Konflikt. Und ebenso ist es mit den rivalisierenden Treuepflichten der Menschen gegenüber unvereinbaren Gütern. In der Welt der Tragödie sind die Tugenden nicht mehr sauber geordnet. Die alten überlieferten Hierarchien überzeugen nicht mehr, und neue sind nicht zur Hand. Was in einer bestimmten Situation gut oder falsch ist, ist sehr schwer zu sagen. Und auch das, was höher gewichtet werden muss. Treue, Ehre, Freundschaft, Familie, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Gesetzesfurcht – die Begriffe purzeln nur so durcheinander und stiften überall Tote, Verwirrung und Trauer. Gerade in Krisenzeiten kollidieren die Werte aufs Sichtbarste und Tragischste: Volksgesundheit, Schutz, Sicherheit, Ordnung, Solidarität, Gemeinwohl vs. Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Grundrechte, Demokratie.
Für Precht ist die Realität ein Gräuel, eine Gefahr, ein Ort der Unmoral, sowie es für Platon die Tragödie ist. Der Kunst des Sophokles oder des Euripides kann Platon beileibe nichts abgewinnen, ebenso wenig wie Precht der Verwirrung, die der widerständige Geist einiger Zweifler in die geordnete Welt des Fürsorge- und Vorsorgestaats bringt. Wer die Verwirrung der Tugenden in einem solchen Maß vorführt, so meinte schon Platon, der vergrößert das Chaos unter den Menschen nur noch zusätzlich.
Für ihn war von allen Künsten das Drama deshalb die moralisch fragwürdigste. Wie bestürzend zu sehen, dass sich Menschen an der Darbietung von charakterlich fragwürdigen oder schlechten Personen ergötzten. Gar nicht zu reden von den Schauspielern, die möglicherweise auch noch Spaß an solchen Darbietungen hätten. Kein Wunder, dass die Regierung in Platons idealem Staat das Programm des Theaters streng reglementieren soll und vieles verbieten …
Kein Wunder also, dass die Regierung auch in Prechts idealem Staat das Programm der Freiheit streng reglementieren soll und vieles verbieten …
Prechts Idee der Pflicht mit ihrem moralisch geordneten Kosmos ist ein Abwehrversuch gegen die Welt, die das Theater vorführt. Aber ist es nicht zugleich ein Abwehrversuch gegen die Realität?
Der Staat
Sein Moralverständnis hat dabei mehr oder weniger direkte Auswirkungen auf sein Staatsverständnis. Nach Precht sind Rechte und Pflichten voneinander losgelöst zu denken. Rechte hat der Mensch nur, insofern er Pflichten hat - sein Recht, Rechte zu haben, ist an seine Pflichtschuldigkeit gebunden.
Dass etwa in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte keine Rede von Pflichten ist, sondern es heißt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren”, weiß Precht nicht.
Als Mensch hat man Rechte, weil man Mensch ist, und zwar in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Moralische Pflichten hat man als Mensch höchstens, weil und insofern man sich selber ihnen unterworfen hat - aus Einsicht in das Sittengesetz, aus Tugendhaftigkeit, aus Glauben. Als Bürger hat man staatliche Pflichten, die im Grunde staatliche Zwänge sind und deren Einhaltung und Nicht-Einhaltung staatlich sanktioniert wird. Je stärker diese Begriffe miteinander vermischt werden, umso eher lässt sich die noch die gröbste Übergriffigkeit des Staats ins Privatleben der Menschen legitimieren.
Mit der Rhetorik des “Keine Rechten ohne Pflichten” lässt sich nämlich sehr gut ein Staat machen, wie man etwa am Rechtsstaatsverständnis des Nationalsozialismus veranschaulichen kann. Der Staat, der Recht und Pflicht zusammendenkt, ist der totale Staat, dem man den verpönten liberalen Staat gegenübergestellt hat, der nämlich eine private Sphäre der Freiheit einer staatlichen Sphäre der Pflichten entgegensetzt.
Der deutsch-rechtliche Gedanken aber kennt keine Sphäre, die tun und lassen kann, was sie will, sondern betrachtet alle Berechtigung unter dem Gesichtswinkel der Pflicht.
so etwa der NS-Jurist und Rassentheoretiker Helmut Nicolai. (Quelle: Helmut Nicolai: Rasse und Recht. Vortrag gehalten auf dem Deutschen Juristentag des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen am 2. Oktober in Leipzig. Hobbing, Berlin 1933, S. 48 f.)
Ein Staat, der Recht und Pflicht voneinander abtrenne, so Nicolai, könne gar nicht mehr Rechtsstaat genannt werden.
Man sieht nicht nur, dass Begriffe wie “Rechtsstaat” oder auch “Fürsorge- und Vorsorgestaat” auch immer von denjenigen missbraucht werden, die den “totalen Staat” wollten, sondern auch, dass die Macht des Staates immer größer und die Freiheit des Individuums immer kleiner wird, je mehr Aspekte des menschlichen Lebens Teil des ominösen Pflichtzusammenhangs fallen,
Der Antwort auf die Frage, welche Pflichten er sich nämlich noch ausdenken kann, “unser Fürsorge- und Vorsorgestaat”, ist keine Grenze gesetzt. Ob es die Impfpflicht ist (gegen die sich Precht noch ausspricht - obwohl er sie nach seiner eigenen Logik kritiklos akzeptieren müsste, sobald sie in einem Fürsorge- und Vorsorgestaat zur gesetzlichen Pflicht gemacht wurde), oder die Pflicht, seine Identität digital auszuweisen, oder die Pflicht, kein Bargeld mehr zu benutzen, oder die Pflicht, jegliche Transaktion als Energieverbrauch kontingentieren zu lassen - jeder Gesichtspunkt des menschlichen Lebens lässt sich in eine vermeintliche Pflicht umdeuten - und jeder, der auf Privatsphäre, Autonomie und Bürgerrechte wert legt, in einen notorischen Nörgler, der sich aus einer Mischung aus Infantilismus und Rebellentum von der Volksgemeinschaft und ihrem Staat entpflichtet.
Das Menschenbild
Ist das der Mensch, den wir aufwachsen sehen wollen in unserer Welt? Precht selber zufolge nicht. In einem seiner früheren Bücher vertrat er mit Wilhelm von Humboldt die Idee, der Staat solle die Menschen zu Bürgern erziehen:
Und dafür musste man lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sich einzubringen, mitzuwirken und dabei über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Das klingt doch ganz gut. Ich würde allerdings die Idee bevorzugen, dass man sich die Freiheit nimmt, sich selber zu mündigen Menschen zu erziehen, die sich selber respektieren und nicht durch falsche Versprechungen verführen und durch falschen Moralismus, der die “Interessen des Staates” höher stellt als die des Einzelnen, unterdrücken lassen. Diejenigen, die die Idee verfolgen, der Bürger habe seine verdammte Pflicht zu erledigen, wollen den Menschen ohne Verantwortung und ohne Stimme.
Doch es ist und bleibt unsere Verantwortung, wie sehr man uns auch nötigen will, das Narrativ zu glauben und unsere Unterdrücker als Retter zu feiern. Um mit Wilhelm Reich zu schließen:
Es ist nicht deine Schuld, aber es ist deine Verantwortung. Du hättest deine wahren Unterdrücker längst abgeschüttelt, wenn du nicht Unterdrückung geduldet und oft direkt unterstützt hättest. Keine Polizei der Welt wäre mächtig genug, dich zu unterdrücken, hättest du ein Qentchen Selbstrespekt im praktischen Alltag und würdest du erkennen, dass du, und nur du, für dein Leben (nicht für die Ehre des Vaterlandes [oder die Volksgesundheit, Anm. d. Verf.]) verantwortlich bist.