Der Traum
Als er 37 Jahre alt war, zog sich Michel de Montaigne in die Turmbibliothek seines Château de Montaigne zurück, wo er seine Zeit dem Schreiben seiner berühmten Essais widmete.
Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michael Montaigne, schon lange müde des Dienstes bei Gericht und in öffentlichen Ämtern, in voller Manneskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen zurückgezogen, um in Ruhe und aller Sorgen ledig, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, den kleinen Rest seines schon zum großen Teil verflossenen Lebens zu vollenden; er hat diese Stätte, diesen teuren von seinen Ahnen ererbten Zufluchtsort, seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht.
In die Deckenbalken ließ er zahlreiche Inschriften gravieren, eine Vorform inspirierender Wandtattoos sozusagen. Auf einem steht noch heute zu lesen:
Die wahre Freude ist, wirklich auf sich selbst gestellt zu sein.
Henry David Thoreau war ebenfalls 37, als er am 4. Juli 1845 seine selbsterbaute Blockhütte am Walden Pond bei Concord bezog, wo er zwei Jahre allein, aber nicht abgeschieden ein einfaches Leben in der Natur führte, das ihm genug Zeit ließe, um zu lesen, schreiben, nachzudenken und die Natur zu erkunden.
In seinem berühmten Bericht Walden schreibt er:
Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.
Ludwig Wittgenstein zog mit 47 Jahren in ein nach eigenen Plänen errichtetes Waldhaus am Eidsvatnet-See in Norwegen, wo er beinahe ein Jahr mit Blick auf den See und die steil aus dem Sognefjord aufragenden Berge verbrachte. Er wohnte auf sieben mal acht Metern in drei kleinen Räumen, alles aus Holz, auf einem Steinfundament. In seinen Briefen schwärmt Wittgenstein davon, wie gut ihm diese Umgebung tue und er hier mehrfach "neue Denkbewegungen" gefunden habe.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an irgendeinem anderen Ort so arbeiten könnte wie hier.
Diese Bewegungen in die Abgeschiedenheit, Stille, Natur und Muße - in ein “echtes Leben” - haben mich seit meiner Jugend fasziniert. Mit 16 Jahren war mir klar: Wie Montaigne und Thoreau leben, wie Heidegger oder auch wie Nietzsche - fernab der schädlichen Zivilisation, nahe am Ideal nicht nur des Philosophen, sondern des Menschen an sich - das war die einzige Art zu leben und daher waren auch alle Versuche, in der Stadt und der verkommenen Zivilisation zu leben, Um- und im schlimmsten Irrwege.
Doch bisher war das alles nicht mehr als ein halbvergessener Traum. Mein Leben verlief nicht so, dass ich den Weg guten Gewissens hätte einschlagen können, um ihn zu verwirklichen.
Der Weg
Ich bin nun in in der Hälfte des Lebens, wenn alles gut geht, an einem Scheitelpunkt, einer Zäsur, “in unseres Lebensweges Mitte”, wie es am Anfang von Dantes Göttlicher Komödie heißt, “als ich mich fand in einem dunklen Walde”.
Der Wald um mich lichtet sich, und ob es eine Höllenfahrt wird, steht noch aus. Doch es wird klarer, dass ich diesen Schritt gehen werde, gehen muss. Zu solchen Veränderungen kommt der Mensch nicht aus Einsicht, sondern durch Leid und Schmerz, und mein Schmerz bezieht sich auf die Aussichten, die ich für die nächsten Jahre und Jahrzehnte habe. Aber es ist auch ein wohltuender Druck - das Empfinden eines mehr oder weniger sanften Anschiebens oder Zerrens in Richtung dessen, was ich als gelingendes Leben bezeichnen würde.
“Never let a good crisis go to waste”, sagen uns die Politiker und Spin Doctors, und recht haben sie: Wenn ich den Impuls dieser Zeit nicht benutze, um selber das zu tun, was ich seit meiner Jugend tun will - mit welchem Recht kann ich dann noch behaupten, es überhaupt je gewollt zu haben?
Der Ort
Zum ersten Mal aber gestaltet sich meine Vision eines gelingenden Lebens nicht von vornherein solitär. Zwar liebe ich die Abgeschiedenheit noch immer, doch mehr und mehr wird mir klar, wie wichtig es ist, sie in ein gesundes Netz sozialer Kontakte einzubinden. Die Möglichkeit, Muße und Einsamkeit zu genießen, dabei aber nicht “aus der Welt gefallen” zu sein, sondern sogar dieses gelingende Leben zusammen mit anderen führen zu können, schwebt mir immer deutlicher vor Augen.
Diese anderen suche und finde ich jetzt. Es sind “Gleichgesinnte” im besten Sinne: freiheitsliebende, wissbegierige, kulturinteressierte Menschen mit einem hohen Maß an Individualität und Eigensinn. Menschen auf der Suche nach einem geeigneten Ort, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Menschen, die es noch stört, wenn man ihre Selbstbestimmung einschränkt, und die sich von der Banalität der Welt und ihren Lügen schnell abgestoßen fühlen. Menschen, die vielleicht schon seit langem, wie ich, von einem Refugium träumen.
Menschen, die verstehen, was auf dem 9. Deckenbalken von Montaignes Turmbibliothek steht:
Das Leben, ohne zu denken, ist leicht, denn Nichtdenken ist eine schmerzlose Krankheit.
Erste Schritte
Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, heißt es bei Lao Zi. In den letzten Wochen habe ich die ersten Schritte getan: mit Menschen geschrieben und telefoniert, die sich vorstellen können, sich in dem Projekt Refugium zu engagieren. Nach Orten gesucht, an denen sich der Traum eines Refugiums weitab von der Welt da unten und einer Gemeinschaft der Glasperlenspieler verwirklichen lässt. Und auch, wenn ich glaube, nun einen geeigneten Ort in Mittelitalien gefunden zu haben, liegt noch eine weite Strecke vor uns.
Viele Fragen bleiben offen:
Wie kann die Finanzierung aussehen? Ist Crowdfunding eine gute Idee?
Sollte es nicht lieber außerhalb der EU sein? Was ist mit der Schweiz, Norwegen, der Türkei?
Wie kann das Leben dort aussehen? Können Menschen dort dauerhaft wohnen oder ist es “nur” ein Seminarzentrum mit wechselnden Besuchergruppen?
Wer kann helfen bei rechtlichen, architektonischen, organisatorischen oder redaktionellen Fragen? Wer kann eigene Seminare anbieten und welche Themen sollen dort abgedeckt werden?
Was können die Vorteile für diejenigen sein, die das Refugium von früh an unterstützen?
Diese Fragen möchte ich in den nächsten Wochen angehen und bin für eure Ideen und Einfälle dankbar. Ich werde das Projekt noch ein wenig unbekannter halten, das heißt, ihr werdet nur hier als Unterstützer davon erfahren und nur auf Nachfrage enger in die Arbeit einbezogen werden. Trotzdem bin ich euch natürlich dankbar, wenn ihr Menschen, die ihr für geeignet haltet, das Projekt zu unterstützen, darauf aufmerksam macht. Vielleicht kennt ihr Menschen, die in dem einen oder anderen Feld eine Expertise besitzen und interessiert sind, sich einzubringen.
Die nächsten Schritte
Zurzeit spreche ich mit dem Makler und den Besitzern des Anwesens. Es liegt in Alleinlage auf einer Anhöhe in Umbrien, umgeben von Wäldern, Wiesen und Obstgärten. Das Gebäude selber ist alt, aber renoviert und in gutem Zustand.
Ich spreche mit vielen Menschen, die sich eine Beteiligung vorstellen können.
Im Januar würde ich gerne all die Menschen, bei denen ich ein gutes Gefühl habe und die mit mir und dem Refugium ein gutes Gefühl haben, an einen Tisch bringen. Vielleicht treffen wir uns online, vielleicht im realen Leben.
Ich würde mich freuen, wenn ihr das Projekt weiterhin wohlwollend begleitet und unterstützt. Wenn wir dort eines Tages angekommen sein werden, freue ich mich auf einen netten Abend mit euch bei einem guten Wein, mit gutem Essen und schöner Musik, gemeinsam ins Gespräch vertieft unter Korkeichen sitzend, den bestirnten Himmel über uns.
Kontakt: info@gunnarkaiser.de
Hallo Gunnar, seit Anfang des Jahres stelle ich mir (eher Einsiedlerin) ähnliche Fragen. Als ich dann eher durch Zufall, Deinen Kanal auf yt entdeckte, war es wie geistige Heimat für mich. Ich würde gern das Projekt finanziell mit unterstützen, stelle mich auch gern als Dipl. Ing. Architektur zur vollen Verfügung. Allerdings sehe ich es etwas kritischer, was Boden auf dem Gebiet der EU betrifft. Gern hierzu in geeigneter Runde zu späterem Zeitpunkt. An dieser Stelle erst ein mal nur eine Brise Rückenwind: Es sind solche Zellen lokaler und v.a. analoger Kultur, die es jetzt braucht. Die später dann zu vernetzen wären. Vielen Herzensdank für Dein Sichtbarsein, für Dein Sein, an dieser Stelle.
Hej Gunnar, hast Du mein Email von vorgestern erhalten bzgl. evt. Möglichkeiten in Schweden?