Mein Lieblingskompendium zur Philosophiegeschichte war immer Hans Joachim Störigs „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“. Was ich faszinierend fand und finde, ist die Tatsache, dass in solchen Übersichten zur Philosophiegeschichte die einzelnen Philosophen mit ihren oft konträren Positionen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Selbst Gedanken von vor 2500 Jahren können uns heute noch Einsichten verschaffen und weiterbringen. Auch philosophische Debatten wie die zwischen Nominalisten und Realisten werden in solchen Werken ausgleichend und fair wiedergegeben; es wird nicht davon ausgegangen, dass einer als „Sieger“ davongegangen ist und der andere nurmehr lächerlich oder verachtenswert.
(Als „überholt“ oder „ideologisch“ bewertet habe ich einzelne Aspekte und Autoren der Philosophie nur in marxistisch-leninistischen Abhandlungen gefunden, wo man sich ein abschließendes Urteil über den Gang der Welt(philosophie)geschichte erlauben zu können meinte.)
Manchmal stelle ich mir vor, wie eine „Kleine Weltgeschichte des Corona-Denkens“ aussehen würde. Mein Wunsch wäre natürlich, dass man dort auch die konträren geisteswissenschaftlichen Positionen zu den Maßnahmen etc. wertfrei dar- und einander gegenübergestellt finden könnte.
Es gäbe in einem solchen Kompendium einen erkenntnisbringenden Überblick über die vielfältigen Ansichten zu Nutzen und Nachteil der Maske für das Leben, zur Technikkritik bezüglich der Massentests und -impfungen, zur autoritären Versuchung, zur Entwicklung zu Kontroll- und Verordnungsstaat, zur Gefahr der Technokratie, der Mehrheitstyrannei, der Gesundheitsdiktatur und zum veränderten Demokratieverständnis, zur Mentalität einer verängstigten Gesellschaft, zum Verhältnis von Politik und Propaganda, Macht und Angst, zur Rolle und Aufgabe der Intellektuellen in Zeiten der Krise , zur Veränderung des Gesundheitsbegriffs, der digitalisierten Bildung und des Menschenbildes, über medienkritische Analysen, über den Einfluss der Sozialen Netzwerke, verdeckte Zensur und Diskursverengung, über die Wertediskussionen im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit u. v. m.
Allerdings befürchte ich, dass, wenn die Sieger der Geschichte auch die Bücher über sie schreiben, eine solche unvoreingenommene Darstellung nicht erwünscht sein wird, sondern man auch in der Rückschau weiterhin den kritischen Teil der Corona-Philosophie dämonisieren oder zumindest ignorieren wird.
Vielleicht haben wir ja die Chance, dass mit einiger zeitlicher Distanz der Blick auf die Dinge weniger getrübt sein wird und die Autoren der Philosophiegeschichten nicht ideologiegetrieben.
Aber dann wird mir klar, dass eine solche unvoreingenommene „Kleine Weltgeschichte des Corona-Denkens“, trotz aller Vielfalt der Ansätze, viel unspannender sein wird als eine Übersicht über die Philosophiegeschichte. Denn die Positionen sind nicht symmetrisch, sie sind auf der Ebene des geistigen und rhetorischen Anspruchs nicht gleichberechtigt. Seit mehr als einem Jahr formulieren Philosophen, Schriftsteller und Intellektuelle wie Giorgio Agamben, Kathrin Schmidt, Michael Esfeld, Frank Furedi, Ulrike Guérot, Gerald Hüther, Naomi Wolf, Christoph Lütge, Peter Hitchens, Raymond Unger oder Thea Dorn scharfsinnige, überlegte und vielfältige Kritikpunkte an den Maßnahmen und der Naivität und Geschwindigkeit, mit der wir unsere Freiheiten und Grundrechte hergeben.
Auf der Gegenseite dazu steht ... nichts. Ein argumentatives Schwarzes Loch. Ein beschämendes Vakuum. Die intellektuelle Selbstentblößung.
Falls sich aber, nach aller Diskursverweigerung und der Verunglimpfung von kritischen Denkern als „Verschwörungstheoretiker“, „Coronaleugner“ und „Schwurbler“, doch noch ein Restbestand an philosophischer Begründung der Corona-Maßnahmen-Affirmation findet, lässt er sich in folgenden Ansichten zusammenfassen:
der Staatsbürger soll seine Pflicht erledigen
in der Demokratie muss man gehorchen und darf Gesetze nicht hinterfragen
man muss dem Staat vertrauen
die Wissenschaft“ hat es gesagt und hat immer Recht
die Medien würden uns niemals die Wahrheit vorenthalten und
Solidarität über alles.
In einer Weltgeschichte der Philosophie hätte eine solche Haltung nur als Fußnote des Bullshits einen Platz, als Ausweis intellektueller Impotenz und Denkverweigerung.
Es sind tiefgründige Argumente für die Maßnahmen, an denen es mangelt, wenn man dereinst eine spannende „Kleine Weltgeschichte des Corona-Denkens“ verfassen will. Es fehlt uns der würdige Gegner, mit dessen scharfer Argumentation es aufzunehmen sich lohnen würde. Es fehlt eine philosophisch grundierte Pro-Maßnahmen-Position, die intellektuell wenigstens halbwegs satisfaktionsfähig wäre.
Wir wünschen uns diesen Gegner. Wir wünschen uns eine echte Herausforderung, würdige Gegenüber und Sparringspartner. Wir wünschen uns durchdachte und wohlformulierte Thesen für die Maßnahmen. Denn weder erfüllt es jemanden mit Stolz noch ist es anregend oder gar erkenntnisfördernd, gegen geistige Zwerge kämpfen zu müssen.
So bleibt zum einen zu hoffen, dass die zukünftigen „Weltgeschichten des Corona-Denkens“ ideologiefreier und unvoreingenommener sein werden, als es der Zeitgeist ist. Zum anderen aber, dass die philosophische Gegenseite langsam, aber sicher den Anspruch an sich selbst gewaltig erhöht, damit auch unsere Nachkommen spannende Philosophiegeschichten werden lesen können.